BGH, Beschluss vom 17.3.2020 – 3 StR 574/19 – NJW 2020, 3669
Sachverhalt
Die 84-jährige R ist trotz ihrer eingeschränkten Bewegungsfähigkeit zu Fuß unterwegs. Neben anderen Erledigungen hob sie bei einer Bank 600 Euro ab. Das Geld verstaute sie in der Handtasche, die sie in den Korb ihres Rollators legt, wobei sie den Gurt um den Rollatorgriff und ihre Hand führte. Während sie sich auf dem Heimweg befand, näherte sich ihr der T von hinten auf seinem Fahrrad. Obgleich er die Fixierung der Tasche am Griff des Rollators und der Hand der R erkannte, ergriff er diese und zog so kräftig an ihr, dass R die Gehhilfe entglitt, sie das Gleichgewicht verlor und ungebremst mit dem Kopf auf das Pflaster aufschlug. Dieser Verlauf musste sich dem T bei seinem Handeln aufdrängen. Mit der Tasche entfernte er sich vom Tatort, um sie für sich zu behalten. Die R erlitt durch den Sturz unter anderem ein Schädel-Hirn-Trauma mit einer massiven subduralen Blutung. Da diese in der Folge nicht zum Stillstand kam, musste sie sechs Tage nach der Tat zur Druckentlastung des Gehirns unter Vollnarkose operiert werden. Nach der Operation erlangte sie aufgrund einer durch den Blutverlust während der Operation und die Vorerkrankungen bedingten Kreislaufschwäche das Bewusstsein nicht wieder. Nachdem sich der Gesundheitszustand trotz weiterer Behandlungsversuche in den nächsten vier Tagen zunehmend verschlechtert hatte, beschloss die behandelnde Ärztin zusammen mit den Angehörigen in Übereinstimmung mit einer entsprechenden Patientenverfügung und vor der Operation gegenüber der Ärztin geäußerten Wünschen der R, diese nur noch palliativ weiter zu behandeln. Sie verstarb 13 Tage nach der Tat.
Strafbarkeit des T?
Skizze
Gutachten
Strafbarkeit gem. §§ 249 I, 251 StGB
T könnte sich gem. §§ 249 I, 251 StGB des Raubes mit Todesfolge strafbar gemacht haben, indem er die Handtasche der R so vom Rollator riss, dass diese stürzte, 13 Tage später verstarb und er sich mit der Tasche entfernte.
I. Tatbestand
1. Grundtatbestand des § 249 StGB
a) Objektiver Tatbestand
aa) Fremde bewegliche Sache
Bei der Handtasche handelt es sich um eine fremde, im Alleineigentum der R stehende bewegliche Sache.
bb) Wegnahme
T müsste die Tasche auch weggenommen haben. Indem er die Tasche vom Griff des Rollators zog, brach er den Gewahrsam der R gegen ihren Willen. Als er sich entfernt, begründet er neuen Gewahrsam, sodass eine Wegnahme vorliegt.
cc) Qualifiziertes Nötigungsmittel
Des Weiteren müsste T Gewalt gegen eine Person angewendet oder mit einer Gefahr für Leib oder Leben gedroht haben. Vorliegend fragt sich, ob durch das kräftige Ziehen an der Handtasche Gewalt gegen die R einsetzte. Gewalt ist durch die Entfaltung körperlicher Kraft verursachter körperlicher Zwang gegen eine Person, der dazu bestimmt ist, geleisteten oder erwarteten Widerstand zu verhindern oder zu überwinden.[1]Rengier, Strafrecht BT I, § 7 Rn. 8. Hier erkennt der T, dass die R die Handtasche samt Griff festhält, setzt seine Kraft also ein, um einen erwarteten Widerstand zu brechen. Anders wäre es, wenn es sich um ein listiges und schnelles Zugreifen auf die Tasche handeln würde, bei der die Wegnahme erfolgt, bevor überhaupt Widerstand geleistet werden kann. Ein qualifiziertes Nötigungsmittel liegt mithin vor.
dd) Finalzusammenhang zwischen Wegnahme und Raubmittel
Der T wirkt auch gerade durch starkes Wegziehen auf die körperlich ein, um die Wegnahme zu ermöglichen. Daher besteht auch ein Finalzusammenhang.
Anmerkung: Sachverhaltsabwandlungb) Subjektiver Tatbestand
T handelte bzgl. des Tatobjekts, der Wegnahme und des Gewalteinsatzes auch vorsätzlich. Daneben handelt er auch mit Zueignungsabsicht, da er die T dauerhaft aus ihrer Eigentümerstellung verdrängen und sich selbst eine solche anmaßen wollte. T wusste, dass er keinen fälligen und einredefreien Anspruch gegen R hatte damit handelte T auch vorsätzlich bzgl. der Rechtswidrigkeit der Zueignung.
2. Erfolgsqualifikation, § 251 StGB
a) Eintritt der schweren Folge: Tod
Die schwere Folge des Todes der R ist eingetreten.
b) Kausalität zwischen Handlung und schwerer Folge
Außerdem ist die Gewaltanwendung nicht hinwegzudenken, ohne dass der schwere Sturz, die darauffolgende Operation und der Behandlungsabbruch entfielen, sodass die Tathandlung auch kausal für den Eintritt der schweren Folge ist.
c) Wenigstens Leichtfertigkeit hinsichtlich der schweren Folge
T handelt hier auch im Hinblick auf den tödlichen Verlauf leichtfertig, also mit grober Fahrlässigkeit, da sich der Verletzungsverlauf hätte aufdrängen müssen und das Verhalten des T durch eine besondere Gleichgültigkeit geprägt war.
d) Gefahrspezifischer Zusammenhang zwischen Grundtatbestand und schwerer Folge
Zwischen dem Grunddelikt des § 249 StGB und dem qualifizierenden Todeserfolg muss zudem ein spezifischer Gefahrverwirklichungszusammenhang bestehen. In dem tödlichen Erfolg muss sich gerade die dem Grundtatbestand anhaftende eigentümliche Gefahr niederschlagen.[5]Rengier, Strafrecht BT I, 23. Aufl. 2021, § 9 Rn. 3.
Anmerkung: Verhältnis von objektiver Zurechnung und gefahrspezifischem ZusammenhangOhne Zweifel hat die Anwendung von Gewalt durch das Aufschlagen der R auf dem Boden und der entstehenden Kopfverletzung das rechtlich missbilligte Risiko geschaffen, dass die R an den Folgen dieser Verletzung verstirbt. Fraglich ist indessen, ob der Zurechnungszusammenhang durch die Operation oder den Behandlungsabbruch unterbrochen ist, weil die behandelnde Ärztin oder die R durch die Patientenverfügung und die mündliche Bestätigung des Inhalts eine „neue Gefahr“ geschaffen haben.
aa) Vorerkrankung
Die Vorerkrankung der R kann keine Zurechnungsunterbrechung aufgrund der Atypik des Kausalverlaufs begründen. Bei einer betagten Person ist durch aus mit Vorerkrankungen und schweren Verläufen von Sturzverletzungen zu rechnen. Eine abnorme Konstitution als außergewöhnlicher Kausalfaktor, der außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit liegt, liegt hier keineswegs vor.[6]Zum Bluter-Fall: Rengier, Strafrecht AT, 13. Aufl. 2021, § 13 Rn. 69 ff.
bb) Operation
Dass der bewusstlose, der Patientenverfügung und dem konkret geäußerten Wunsch entsprechende Zustand durch einen Blutverlust während der Operation eingetreten ist, lässt sich nicht als ein zurechnungsunterbrechendes Dazwischentreten Dritter einordnen. Schließlich wird gerade kein neues Risiko geschaffen, wenn die Ärzte erfolgslos versuchen die durch den Täter unmittelbar verursachten Verletzungen lege artis zu behandeln.[7]BGH NStZ 2021, 231, 232. Vielmehr ist eine Eindämmung des vom T geschaffenen Risikos nicht gelungen.
Vernetztes Lernen: Wann kann eine Zurechnungsunterbrechung durch ärztliche Behandlung angenommen werden, wenn sich der Zustand des Verletzten verschlechtert?cc) Behandlungsabbruch
Fraglich ist jedoch, ob ein durch Patientenverfügung und in der konkreten Situation geäußerter Behandlungsverzicht den Zurechnungszusammenhang aufgrund einer freiverantwortlichen Selbstschädigung der R unterbricht. Dagegen spricht zunächst, dass durch den Behandlungsverzicht gerade keine eigenständige „neue“ Gefahr des Todes geschaffen wird, sondern die Gefahr des Todes lediglich nicht eingedämmt wird.[9]BGH NStZ 2021, 231, 232. Es ließe sich argumentieren, dass sich aufgrund des Selbstbestimmungsrechts des Patienten auch bei einer wertenden Betrachtung keine zurechnungsunterbrechende Wirkung einstellen kann. Dass das Selbstbestimmungsrecht den Patienten gerade davor bewahrt, sich einer „Maximaltherapie“ am Lebensende unterziehen zu müssen, hat der Gesetzgeber auch gerade durch die Einführung des § 1901a BGB zum Ausdruck gebracht und wurde genereller vom BVerfG in seiner Entscheidung zu § 217 StGB aF betont.[10]BGH NStZ 2021, 231, 233. Ob das Gewicht des Selbstbestimmungsrechts aber tatsächlich primär maßgebend für die Zurechnungsdogmatik sein kann oder es zusätzlich auf die Vernünftigkeit der Patientenentscheidung ankommt, kann hier jedenfalls dahinstehen, da tatsächlich mit der Behandlung keine nennenswerten Heilungschancen einhergegangen wären.
Anmerkung: Selbstbestimmungsrecht vs. VernunftmaßstabDem entsprechend stellt auch das Verhalten der Ärztin keine Zurechnungsunterbrechung dar. Schließlich beugt sich die Ärztin bei dem Behandlungsabbruch alleine dem Patientenwillen.[13]BGH NStZ 2021, 231, 233.
Vernetztes Lernen: Besteht ein Gefahrspezifischer Zusammenhang, wenn der Tod nicht durch das qualifizierte Nötigungsmittel, sondern durch die Wegnahme, etwa lebenswichtiger Medikamente verursacht wird?II. Rechtswidrigkeit
Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. T handelt rechtswidrig.
III. Schuld
Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich. T handelt schuldhaft.
IV. Ergebnis
T hat sich gem. §§ 249 I, 251 StGB strafbar gemacht.
Zusatzfragen
1. Wie wäre der Fall zu beurteilen, wenn die R nach der Operation eine erfolgversprechende ärztliche Behandlung zur Lebensverlängerung mit überschaubarem Risiko bewusst ablehnt und verstirbt?Das Aussageverweigerungsrecht gem. § 55 StPO greift hingegen nur bzgl. der Beantwortung solcher Fragen, die den Zeugen oder einen nahen Angehörigen belasten könnten. Es dient im ersten Falle der Absicherung des nemo-tenetur-Grundsatzes und im zweiten Falle dem Schutz solcher Angehöriger i.S.d. § 52 StPO, die (noch) nicht beschuldigt sind und daher noch nicht über § 52 StPO geschützt werden.[19]Vgl. den Überblick bei https://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02150500/2020/25-zeugnisverweigerungsrechte-ueberarbeitet.pdf
Zusammenfassung
1. Gewalt i.S.v. § 249 StGB setzt anders als bei § 240 StGB voraus, dass sie sich unmittelbar gegen eine Person richtet. Daher kommt es bei dem groben Wegziehen einer Handtasche, die am Rollator fixiert ist, darauf an, ob sie im hinreichenden Kontakt mit dem Körper des Opfers steht.
2. Weder die Vorerkrankung einer betagten Rentnerin noch eine lege artis und medizinisch indizierte Operation zur Behebung von solchen Verletzungen, die durch den Täter unmittelbar verursacht werden, können den Zurechnungszusammenhang aufgrund der Atypik oder dem Dazwischentreten Dritter unterbrechen.
3. Ein durch Patientenverfügung und in der konkreten Situation geäußerter Behandlungsverzicht unterbricht den Zurechnungszusammenhang nicht aufgrund von freiverantwortlicher Selbstschädigung. Zur Begründung stützt sich der BGH vor allem auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Mit weniger Brüchen dürfte sich aber eine Orientierung an der Rationalität der Patientenentscheidung in die Zurechnungsdogmatik einfügen lassen. Ob ein „Vernunftvorbehalt“ relevant sein kann, lässt die Entscheidung ausdrücklich offen.