highlight_off
Äußerung der Kanzlerin auf Auslandsreise - Wahl in Thüringen mit Stimmen der AfD

BVerfG Urteil vom 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20; NVwZ 2022, 1113

Sachverhalt

Im Februar 2020 wurde der FDP-Politiker Thomas Kemmerich überraschend zum Thüringischen Ministerpräsidenten gewählt. Dies geschah mit einer Mehrheit, welche sich aus den Stimmen der FDP, CDU und der AfD zusammensetzte. Nur durch die Stimmen der AfD war eine Mehrheit möglich geworden. Die Zustimmung der AfD war im Vorhinein nicht mit den anderen Parteien verabredet, aber teilweise erwartet worden.

Die CDU hatte zuvor Bundesparteitagsbeschlüsse gefasst, in welchen sie jede Zusammenarbeit mit der AfD ausdrücklich ausschloss. Dies wird damit begründet, dass die AfD „rechtsextremes Gedankengut, Antisemitismus und Rassismus bewusst“ dulde und ein „ideologisches Umfeld“ unterstützt werde, „aus dem der mutmaßliche Täter von Walter Lübcke gekommen ist.“[1]Nachzulesen hier: https://archiv.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/cdu_deutschlands_unsere_haltung_zu_linkspartei_und_afd_0.pdf?file=1) (letzter Abruf am 28.09.2022).

In der Folge gab es bundesweit teils heftige politische Diskussionen. Die zu dem Zeitpunkt auf Bundesebene regierende Koalition aus SPD und CDU stritt sich intern über den angemessenen Umgang mit der entstandenen Situation. In der SPD wurden vereinzelt Stimmen laut, die Koalition auf Bundesebene von der Reaktion der CDU abhängig zu machen. SPD Vertreter:innen bezeichneten das Verhalten der CDU als „unverzeihlichen Dammbruch“. Es wurde der sog. Koalitionsausschuss einberufen, bei dem die Parteiführungen der Koalitionsparteien über das weitere Vorgehen diskutieren wollten. Auch international wurden die Wahl und die Zusammenarbeit mit der AfD wahrgenommen und kommentiert. Internationale Zeitungen berichteten davon, dass „Merkels CDU“ ein Tabu gebrochen hätte und mit einer „weit rechts außenstehenden Partei“ zusammengearbeitet habe.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (BK), selbst Präsidiumsmitglied der CDU und deren ehemalige Bundesvorsitzende, war zum Zeitpunkt der Wahl auf Auslandsreise. Bei einer Pressekonferenz am nächsten Tag beim Staatsbesuch in Südafrika äußerte sich die BK vor der deutschen und der südafrikanischen Fahne nach den Begrüßungsworten des südafrikanischen Präsidenten („Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin (…)“) wie folgt:

„Meine Damen und Herren, ich hatte dem Präsidenten schon gesagt, dass ich aus innenpolitischen Gründen eine Vorbemerkung machen möchte, und zwar bezogen auf den gestrigen Tag, an dem ein Ministerpräsident in Thüringen gewählt wurde. Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung für die CDU und auch für mich gebrochen hat, dass nämlich keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD gewonnen werden sollen. Da dies in der Konstellation, in der im dritten Wahlgang gewählt wurde, absehbar war, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb das Ergebnis rückgängig gemacht werden muss. Zumindest gilt für die CDU, dass sich die CDU nicht an einer Regierung unter dem gewählten Ministerpräsidenten beteiligen darf. Es war ein schlechter Tag für die Demokratie. Es war ein Tag, der mit den Werten und Überzeugungen der CDU gebrochen hat. Jetzt muss alles getan werden, damit deutlich wird, dass dies in keiner Weise mit dem, was die CDU denkt und tut, in Übereinstimmung gebracht werden kann. Daran wird in den nächsten Tagen zu arbeiten sein. Jetzt komme ich zu dem Land Südafrika, das ich mit Freude und zum dritten Mal als Bundeskanzlerin besuche. …“

Das Statement wurde auch auf den Webseiten www.bundesregierung.de und www.bundeskanzlerin.de mit dem Hinweis „Mitschrift im Wortlaut“ veröffentlicht. Auf den vom Bund betriebenen Internetseiten ist der Bundesadler und das Dienstwappen der Bundeskanzlerin bzw. der Bundesregierung zu sehen.

Die AfD sieht sich durch die Äußerung der BK in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 I 1 GG verletzt. Die deutliche Abwertung der AfD und effektiv ein Aufruf zum Boykott der AfD auf einer offiziellen Reise der Bundeskanzlerin verletze die Neutralitätspflicht bei Äußerungen in der Eigenschaft als Amtsträgerin. Schließlich sei sie gerade als Bundeskanzlerin und nicht als Mitglied der CDU in Südafrika auf Staatsbesuch gewesen.

Hinzu komme: Als Bundeskanzlerin sei die BK bereits nicht zu der entsprechenden Äußerung berechtigt gewesen. Eine Äußerungsbefugnis zu demokratischen Entscheidungen auf Landesebene gebe es nicht.

Außerdem müsse sich die BK im politischen Meinungskampf zurückhalten und die Neutralitätspflicht wahren, dies habe das Bundesverfassungsgericht in bisheriger Rechtsprechung stets betont.

Eine weitere Verletzung läge in der Veröffentlichung des Statements auf den Webseiten www.bundesregierung.de und www.bundeskanzlerin.de. Hier bediene sich die Kanzlerin Mittel, die ihr als Amtsträgerin und nicht als Parteipolitikerin zustehen, weshalb darin eine Verletzung der Chancengleichheit der Parteien läge.

Die BK entgegnet, dass sie eindeutig kenntlich gemacht habe, dass es sich um eine Vorbemerkung handele, die gerade nicht als Teil ihrer Äußerungen im Rahmen des Staatsbesuchs zu werten sei. Es sei für die Öffentlichkeit erkennbar gewesen, dass sie zu dem Zeitpunkt als Parteipolitikerin spreche und gerade nicht als Kanzlerin, wie sich auch aus dem klaren Bezug in dem Statement zu ihrer Partei erkennen lasse.

Die Äußerung sei aber so oder so gar nicht geeignet die AfD im politischen Meinungskampf zu beeinträchtigen: Sie habe nicht die AfD kritisiert, sondern die eigene Partei, die gegen ihre eigenen Parteitagsbeschlüsse verstoßen habe. Außerdem habe sie nicht die (abgeschlossene) Wahl in Thüringen kritisiert, sondern die Zustimmung der CDU zu dem Kandidaten.

Angesichts der Schwere und Tragweite der entstandenen Situation sei auch die Befassung eines Mitglieds der Bundesregierung mit landespolitischen Fragen nicht außerhalb der Kompetenzordnung. Die Integrationsfunktion entfalte auch Wirkung in Bezug auf Geschehnisse in den Bundesländern. Hinzu käme, dass auch international Irritationen entstanden seien: Internationale Partnerregierungen, Parteien und die internationale Presse hätten die Frage gestellt, ob die Regierungsfähigkeit in Deutschland erhalten bliebe.

Selbst wenn man dies nicht so sehe: Die Doppelrolle als Amtsträgerin und Parteipolitikerin, die die Verfassung für Regierungsmitglieder vorsehe, führe zu Momenten, in denen man sich im politischen Meinungskampf beteiligen müsse, gerade auch – wegen des stärker werdenden Drucks auf die Koalition – um die Regierungsfähigkeit nicht zu gefährden.

Die Veröffentlichung der Mitschrift auf den Webseiten der Bundesregierung und Bundeskanzlerin sei eine reine Protokollierung der getätigten Äußerungen. Aus Gründen der Archivierung bestehe die Notwendigkeit vollständig über Inhalte auf Pressekonferenzen zu berichten. Es handele sich gerade nicht um das Zu-Eigenmachen des Inhalts, sondern um eine Abbildung des Gesagten im Wortlaut. Um Missverständnissen vorzubeugen, wurden die hier streitgegenständlichen Äußerungen jedoch vor der gerichtlichen Auseinandersetzung von der Webseite entfernt.

Die AfD meint, durch den Hinweis auf eine „Vorbemerkung“ könne nicht zwischen der Amtsträgerin und der Parteipolitikerin unterschieden werden. Gerade auch die Formulierung aus „innenpolitischen Gründen“ sei nicht eindeutig. Letztlich sei sie in ihrer Funktion als Bundeskanzlerin auf der Pressekonferenz aufgetreten, wurde so vom südafrikanischen Präsidenten angesprochen und die Äußerungen wurden auf der Webseite der Bundesregierung und der Bundeskanzlerin veröffentlicht. All dies spreche für eine Äußerung im Rahmen ihrer Amtsträger-Eigenschaft. Dann müsse sie aber die entsprechenden Neutralitätsverpflichtungen einhalten. Diese seien verletzt.

Die AfD legt deshalb form- und fristgerecht Rechtsmittel beim Bundesverfassungsgericht ein.

Wie ist die Aussicht auf Erfolg?


Skizze


Gutachten

Die AfD kann im Wege eines Organstreitverfahrens gem. Art. 93 I Nr. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 5, 23, 63 ff. BVerfGG beim BVerfG beantragen festzustellen, dass sie in ihren Rechten verletzt ist. Ein solcher Antrag hat Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit

Der Antrag müsste zunächst zulässig sein.

I. Zuständigkeit

Das BVerfG ist für Organstreitverfahren nach Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG zuständig.

II. Parteifähigkeit

Die AfD als Antragstellerin und die BK als Antragsgegnerin müssten parteifähig sein, § 63 BVerfGG. Die AfD ist weder ein oberstes Bundesorgan noch ein Teil eines solchen, sodass die Parteifähigkeit nicht aus § 63 BVerfGG folgen kann. Nach Art. 93 I Nr. 1 GG sind aber auch andere Beteiligte parteifähig, die u.a. durch das Grundgesetz mit eigenen Rechten ausgestattet sind. In Art. 21 GG werden Parteien mit eigenen Rechten (u.a. Chancengleichheit) ausgestattet, sodass sie jedenfalls insoweit parteifähig sind, als sie ihre Rechte aus Art. 21 GG geltend machen.[2]St. Rspr. s. nur BVerfG BeckRS 2020, 11570 Rn. 36 m.w.N. Die AfD ist demnach parteifähig.

Vernetztes Lernen: Muss bei Parteien je nach geltend gemachtem Recht differenziert werden, wie sie sich an das BVerfG wenden können?
Nach der Rechtsprechung des BVerfG muss differenziert werden. Die Verletzung individueller Rechte, d.h. insb. Grundrechte, die nicht parteispezifisch sind, kann mittels Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Anderenfalls würde die Sonderrolle der Parteien (Art. 21 GG) weiter ausgedehnt als erforderlich. Letztlich sind Parteien der gesellschaftlichen Sphäre zuzuordnen. Dass sie dennoch Parteifähig im Organstreitverfahren sind, soweit sie eine Verletzung von Art. 21 GG rügen, erklärt sich historisch. In der Weimarer Republik fehlte eine Verfassungsbeschwerdemöglichkeit, sodass das Organstreitverfahren erforderlich war, um überhaupt eine Rechtsschutzmöglichkeit für Parteien zu schaffen. Da diese Notwendigkeit mit dem GG weggefallen ist, wird entgegen dem BVerfG bisweilen vertreten, Parteien insgesamt auf die Verfassungsbeschwerde zu verweisen.[3]Vgl. m.w.N. Walter, in: Maunz/Dürig, GG, Werkstand: 91. EL April 2020, Art. 93 Rn. 218.

Die Bundeskanzlerin selbst ist gem. Art. 63 I, 65 GG Teil der Bundesregierung und damit Teil eines obersten Bundesorgans.[4]Siehe zur Herleitung des Bundesverfassungsgerichts: BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 54 ff. Dass die Bundeskanzlerin ihr Amt seitdem aufgegeben hat, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist der Zeitpunkt zu dem der Verfassungsstreit anhängig gemacht wurde.[5]Dies ist vor allem deshalb interessant, weil nicht auf den Zeitpunkt der Äußerung abgestellt wird. Siehe dazu: BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 55 ff.

III. Streitgegenstand

Ein tauglicher Streitgegenstand ist eine rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung, die geeignet ist die Rechtsstellung der Antragstellenden zu beeinträchtigen, § 64 I BVerfGG. Die getätigte Äußerung ist generell geeignet die Rechte der Antragstellerin zu beeinträchtigen. Gleiches gilt für die Veröffentlichung auf den Webseiten der Regierung. Damit handelt es sich um eine rechtserhebliche Maßnahme in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis.[6]Vgl. zum Erfordernis der Rechtserheblichkeit Walter, in: BeckOK-BVerfGG, 9. Ed. Stand 01.07.2020, § 64 Rn. 25; die Rechtserheblichkeit rückt nah an die Antragsbefugnis heran, … Continue reading

IV. Antragsbefugnis

Die AfD müsste antragsbefugt sein, § 64 I BVerfGG. Dafür müsste die Möglichkeit bestehen, dass die AfD in ihren Rechten verletzt ist. Es kann nicht bereits von vornherein ausgeschlossen werden, dass durch die Äußerung der BK auf der Pressekonferenz, die wohl mittelbar Bezug auf die AfD nahm, ein Nachteil für die AfD im Parteienwettbewerb entstanden ist und damit eine Rechtsverletzung vorliegt. Ebenso könnte die BK mit der Inanspruchnahme amtlicher Ressourcen für die Veröffentlichung der Mitschriften die Chancengleichheit der AfD aus Art. 21 I GG verletzt haben. Die AfD ist demnach antragsbefugt.

V. Rechtsschutzbedürfnis

Die AfD müsste rechtsschutzbedürftig sein. Das Rechtsschutzbedürfnis besteht wenn und solange über die behauptete Rechtsverletzung zwischen den Beteiligten Streit besteht.[7]Vgl. BVerfGE
147, 31, 37 Rn. 18.
Die Äußerung der BK ist abgeschlossen und der Gegenstand der Äußerung (die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten) ist weggefallen. Jedoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich Mitglieder der Regierung in Zukunft in ähnlicher Weise äußern. Damit läge auch ein besonderes Fortsetzungsfeststellungsinteresse vor.

In Bezug auf die Veröffentlichung der streitgegenständlichen Äußerungen auf der Homepage könnte die Entfernung ebendieser dem Rechtsschutzbedürfnis entgegenstehen. Jedoch hat die BK kenntlich gemacht, dass sie weiterhin der Auffassung ist, dass die Veröffentlichung auf der Webseite verfassungsrechtlich unbedenklich sei, sodass es zu vergleichbarem Anlass zu einer weiteren Veröffentlichung auf der Homepage kommen könnte. Demnach besteht über die behauptete Rechtsverletzung weiterhin Streit und somit Wiederholungsgefahr.

Das Rechtsschutzbedürfnis liegt vor.

VI. Form und Frist

Die Anforderungen an Form und Frist aus §§ 23 I 1, 64 II, III BVerfG wurden eingehalten.

VII. Zwischenergebnis

Das Organstreitverfahren der AfD ist zulässig.

B. Begründetheit

Der Antrag ist begründet, wenn die AfD durch die Aussagen der BK und/oder durch die Veröffentlichung der Aussagen auf den Regierungswebseiten in ihren Rechten aus Art. 21 I GG verletzt wurde.

Anmerkung: Änderung des Aufbaus durch das BVerfG

Dieser Fall reiht sich ein in die äußerungsrechtlichen Entscheidungen (siehe neben „Wanka/rote Karte“[8]BVerfG Urt. v. 27.02.2018 – 2 BvE 1/16. und „Spinner“[9]Äußerung des ehemaligen Bundespräsidenten: BVerfG Urt. v. 10.06.2014 – 2 BvE 4/13. bzw. „Licht aus!“[10]Zu den Besonderheiten bei Lokalpolitikern: BVerwG Urt. v. 13.09.2017, Az. 10 C 6.16., vor allem den zeitlich jüngst vorhergehenden Fall, welcher eine Aussage des ehemaligen CSU-Politikers Seehofer als Bundesminister aus dem Jahre 2018 über die AfD zum Gegenstand hatte – https://staging.examensgerecht.de/aeusserung-eines-bundesministers/).
Zuvor hatte sich eine Art „normaler“ Aufbau für derartige Fälle herausgebildet, welcher die widerstreitenden Interessen deutlich macht und auch für diesen Fall genutzt werden könnte. Der Aufbau sieht wie folgt aus:

I. Herleitung des Rechts auf chancengleiche Teilnahme am politischen Wettbewerb der Partei aus Art. 21 I GG
II. Herleitung des Rechts des Amtsträgers zur Äußerung aus Informationsrechten
III. Grenzen der Äußerungsbefugnis, Grenzen des Schutzes der Parteien – Abwägung

Das BVerfG hat in diesem Fall einen leicht anderen Aufbau gewählt. Die Lösung folgt dem „neuen“ Aufbau des BVerfG. Inhaltlich könnten die gleichen Prüfungspunkte aber unter dem soeben beschriebenen Schema geprüft werden.

I. Äußerung bei der Pressekonferenz

Die AfD könnte durch die Äußerung auf der Pressekonferenz in ihren Rechten verletzt sein. Dafür muss zunächst die Reichweite des Schutzes der Parteien aus Art. 21 I GG zur chancengleichen Teilnahme am politischen Wettbewerb dargelegt werden.

1. Verfassungsrechtliches Recht der AfD

Die AfD müsste ein verfassungsrechtliches Recht aus Art. 21 I GG zustehen. In der freiheitlichen Demokratie geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und wird in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt; so lautet der Wortlaut von Art. 20 II GG. Um dies zu gewährleisten ist es nötig, dass alle Personen sich an der politischen Willensbildung beteiligen können und dass Personen aus der Mitte des Volkes Zugang zu politischen Ämtern erhalten können. Nach Art. 21 I 1 GG wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Diese Vermittlungsfunktion zwischen Staat und Gesellschaft braucht es in einer Demokratie, um Wähler:innen zusammenzuschließen und ihnen damit politische Partizipation zu ermöglichen.[11]BVerfG NJW 2018, 928, 929; BVerfG NJW 2020, 2096, 2097; BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 70 ff. Mithin erfüllen die Parteien die Scharnierfunktion, die einen demokratischen Staat überhaupt erst ermöglicht. Für eine offene politische Willensbildung ist es erforderlich, dass die Parteien im politischen Wettbewerb gleichberechtigt sind.

Die Chancengleichheit steht in engem Zusammenhang mit der Gleichheit der Wahl gem. Art. 38 I 1 GG, die auch im Vorfeld der Wahl und damit auch in Bezug auf die politische Willensbildung durch Parteien Bedeutung hat.[12]BVerfG NVwZ 2015, 1361, 1362; vgl. auch BVerfG NVwZ 2002, 70; BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 72. Die Gleichbehandlung bei der Wahl (Art. 38 I 1 GG) ist eine wesentliche Grundlage der demokratischen Ordnung und damit streng formal zu verstehen.[13]St. Rspr. vgl. BVerfG NVwZ 2008, 407, 408. Der Zusammenhang zwischen Art. 38 I 1 GG und der Gleichbehandlung der Parteien bedeutet, dass auch diese Gleichbehandlung formal zu verstehen ist.[14]BVerfG NJW 2018, 928, 929; BVerfG NJW 2020, 2096, 2097. Art. 21 I 1 GG schützt damit die Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung in gleichen Rechten und Chancen. Die Kehrseite der Chancengleichheit ist das staatliche Neutralitätsgebot gegenüber Parteien.[15]Vgl. BVerfG NJW 2020, 2096, 2097 f.

Diese Chancengleichheit bei der Willensbildung könnte auf den Wahlkampf bezogen und beschränkt sein. Damit könnte das Recht der AfD diese nicht vor dem Verhalten der BK schützen. Die Vermittlerfunktion der Parteien und die Mitwirkung an der politischen Willensbildung sind in Wahlkampfzeiten besonders intensiv.[16]Vgl. BVerfG NVwZ 2015, 209, 210 f.; BVerfG NJW 2018, 928, 929. Der Vorgang politischer Willensbildung ist aber nicht auf den Wahlkampf beschränkt, sondern findet dauernd statt. Auch außerhalb der Wahlkampfzeit wirkt sich das Verhalten der Parteien auf die Wahl aus. Damit beschränkt sich das Recht der Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 I 1 GG nicht auf die Wahlkampfzeit.

Das Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 I 1 GG gilt auch für die AfD, wie für jede Partei, die nicht vom BVerfG nach Art. 21 II GG für verfassungswidrig erklärt wurde.

Anmerkung: Ähnlichkeien zu vohergehenden Entscheidungen

Dieser Teil ist in den vorhergehenden Entscheidungen[17]Wanka/„rote Karte“ – BVerfG Urt. v. 27.02.2018 – 2 BvE 1/16, „Spinner“ – BVerfG Urt. v. 10.06.2014 – 2 BvE 4/13 bzw. „Licht aus!“ – BVerwG Urt. v. 13.09.2017, Az. 10 C 6.16, … Continue reading vergleichbar. Hier kann auf Bekanntes 1:1 zurückgegriffen werden, weshalb dieser Abschnitt im Weitesten aus der Lösung von Johann Remé https://staging.examensgerecht.de/aeusserung-eines-bundesministers/) entnommen ist.

2. Maßstäbe der Äußerungsbefugnisse der Bundeskanzlerin

Mitglieder der Bundesregierung bewegen sich jedoch regelmäßig in einem Spannungsverhältnis zwischen dem staatlichen Neutralitätsgebot und dem notwendigen und erlaubten Tätigwerden im Rahmen der Informations- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Hinzu kommt ihre Doppelrolle als Mitglieder der Exekutive und Teilnehmer am politischen Wettbewerb. Zunächst sollen hier die abstrakten Maßgaben betrachtet werden, welche in diesem Spannungsverhältnis angelegt werden.

a) Herleitung des Rechts zur Äußerung

Der Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin hat, genauso wie die Bundesregierung als Ganzes, die Aufgabe der Staatsleitung (Art. 62, 65 GG), was die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit einschließt. Sie dient der Erhaltung eines Grundkonsenses in der Demokratie und bezweckt die Förderung eigenverantwortlichen Mitwirkens der Bürger:innen an der politischen Willensbildung und die Bewältigung von Problemen.[18]BVerfG NJW 2020, 2096, 2098 m.w.N.; vgl. zur Staatsleitung auch Epping, in: BeckOK-GG, 44. Ed. Stand: 15.08.2020, Art. 65 Rn. 21 ff. Diese Befugnis umfasst insbesondere die Erklärung der Regierungspolitik und die objektive Information über für die Bürger:innen unmittelbar relevante Fragen auch außerhalb exekutiver Politik.[19]BVerfG NJW 2020, 2096, 2098 m.w.N.

b) Grenzen des Rechts zur Äußerung

Grenzen findet die Äußerungsbefugnis jedoch dort, wo sich Amtsträger:innen Ressourcen bedienen, auf die sie aufgrund ihrer Funktion Zugriff haben oder wenn sie sich der Autorität des Regierungsamtes bedienen und zugleich zu Gunsten oder zu Lasten einer bestimmten Partei Einfluss auf den politischen Wettbewerb der Parteien nehmen.[20]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 78. Hier besteht die Gefahr, dass der Prozess der Willensbildung umgekehrt wird und nicht mehr vom Volke ausgeht, sondern vom Staat zum Volk verläuft.[21]BVerfG NJW 2018, 928, 930; BVerfG NJW 2020, 2096, 2098; BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 78. In einem solchen Szenario verletzt eine Partei ergreifende Äußerung eines Mitglieds der Regierung das Neutralitätsgebot und damit die Integrität des freien und offenen Prozesses der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen.

Mit dem Neutralitätsgebot geht eine Beschränkung der Reichweite der Äußerungsmöglichkeiten der Regierungsmitglieder einher. Dies erschwere den Regierungsmitgliedern die Wahrnehmung ihrer parlamentarischen Verantwortlichkeit und könne – im Ergebnis – zu einer Entpolitisierung des Regierungshandelns führen.[22]Siehe hierzu instruktiv die abweichende Meinung von der Richterin Wallrabenstein: Wallrabenstein BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 10 ff. Diese Ansicht meint, dass die Einschätzungsprärogative der Regierung in ihrem Handeln weiter gezogen werden müsste. Neben der Informations- und Öffentlichkeitsarbeit (worin einfaches Verwaltungshandeln liegt) seien Regierungsmitglieder auch darin frei die Selbstdarstellung der Regierung nach außen zu tragen.[23]Ebd. Rn. 11 ff. Die beiden Ansichten unterscheiden sich vor allem in folgender Grenzziehung: Die vorher vorgetragene Ansicht zöge eine Grenze zwischen Amtsausübung und Parteitätigkeit. Die zuletzt genannte Ansicht würde zwischen Exekutiv- und Regierungstätigkeit differenzieren. Exekutivhandeln sei rein an den entwickelten Maßstäben für Verwaltungshandeln zu beurteilen, zur Regierungstätigkeit gehöre auch die (politische) Selbstdarstellung nach außen[24]So auch: Payandeh, der Staat 2016, 519; Meinel, der Staat 2021, 43, 79 ff.. Schließlich wird die Regierung gewählt und soll entsprechend der Präferenz der Stimmenmehrheit Politik in dem von den Regierungsmitgliedern (zum Zeitpunkt der Wahl vor allem Parteipolitiker:innen) versprochenen Verständnis machen.[25]Ebd. Rn. 13 f.

Anmerkung: Abweichende Meinung der Richterin Wallrabenstein / Senatsmehrheits- und Senatsmindermeinung

Die hier dargestellte abweichende Meinung der Richterin Wallrabenstein hat sich insbesondere auf die in der Literatur entwickelte Kritik an der Rechtsprechung des BVerfG bezogen [26]Vgl. Payandeh, der Staat 2016, 519; Gusy, KritV 2018, 210; Meinel, der Staat 2021, 43, 79 ff. und dementsprechend in der Literatur durchaus Unterstützung erfahren[27]Grundsätzlich begrüßend: Michl, Verfassungsblog, 16.06.2022, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/was-darf-eine-bundeskanzlerin-sagen/. Sie wird später noch einmal heranzuziehen sein. Die hier besprochene Entscheidung ist ausnahmsweise mit einem Hinweis auf die Mehrheitsverhältnisse im Senat ergangen. Nur knapp, mit 5:3 Stimmen, entschieden sich die Richter:innen dafür der Mehrheitsmeinung zu folgen. Während es nicht ungewöhnlich ist, dass abweichende Meinungen von Richter:innen mitveröffentlicht werden, ist es ungewöhnlich, dass das BVerfG die Mehrheitsverhältnisse kenntlich macht.

Dieser Ansicht kann jedoch entgegengehalten werden, dass die Entscheidungen der Politik entsprechend den Vorstellungen der Parteipolitiker:innen getroffen werden, sie über politische Vorhaben oder Maßnahmen informieren können und Angriffe und Vorwürfe (unter Berücksichtigung des Sachlichkeitsgebots – kein Recht zum Gegenschlag[28]BVerfG NJW 2018, 928, 931.) zurückweisen können, sie also durchaus politisch und nicht nur exekutiv tätig werden. Jedoch sind die Mitglieder der Regierung daran gehindert zu Gunsten oder zu Lasten einer einzelnen Partei die Ressourcen und die Amtsautorität einzusetzen, welche den politischen Mitbewerbern nicht offen stehen. Ohne diese Grenze hätten die Regierungsparteien strukturelle Vorteile, die sie zur Beeinflussung der politischen Willensbildung zu ihren Gunsten einsetzen könnten.[29]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 79. Deshalb ist die oben genannte Grenzziehung – Einsatz von Ressourcen oder Bezugnahme auf die Autorität des Amtes – weiterhin heranzuziehen.

aa) Doppelrolle als Regierungsmitglied und Parteipolitiker

Die Mitglieder der Bundesregierung und andere politische Amtsträger befinden sich regelmäßig in einer Doppelrolle, in der sie zugleich als Regierungsmitglieder einerseits und Parteipolitiker andererseits agieren. Trotz dessen trifft sie die Neutralitätsverpflichtung immer dann, wenn die soeben besprochen Grenzen der Äußerungsbefugnis erreicht sind, sie also auf Ressourcen oder die Autorität ihres Amtes zurückgreifen.[30]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 76. Die Doppelrolle schließt Amtsträger:innen jedoch nicht gänzlich von der Teilnahme am politischen Wettbewerb aus, dies würde die Regierungsparteien in nicht gerechtfertigter Weise im politischen Wettbewerb benachteiligen.[31]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 76.

Regierungsmitglieder werden regelmäßig auch von der Öffentlichkeit als Parteipolitiker wahrgenommen. Die Erwartungen an die Neutralität könnten in der Bevölkerung durchaus gering sein.[32]So etwa die abweichende Meinung der Richterin Wallrabenstein m.w.N.: Wallrabenstein BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 7, 11. Die verfassungsrechtliche Vorgabe den Willensbildungsprozess vom Volk zu den Staatsorganen durch die chancengleiche Teilnahme der Parteien am politischen Wettbewerb möglichst frei und ohne staatlichen Einfluss zu gestalten, bleibt jedoch erhalten. Aus der – möglicherweise – geringen Neutralitätserwartung der Bevölkerung ergibt sich dementsprechend keine Erleichterung der Neutralitätspflicht.[33]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 77. Vielmehr hängt die Festlegung des Verhaltensmaßstabs nicht davon ab, wie hoch die Erwartung an die Neutralität in der Bevölkerung ist. Mithin ändert auch dies nichts an dem ursprünglich festgelegten Maßstab.

bb) Besonderheiten der Maßstäbe für den Bundeskanzler?

Der Bundeskanzler ist entsprechend den für die Regierungsmitglieder entwickelten Maßstäben verpflichtet sich nach diesen Regeln in der Auseinandersetzung mit anderen Parteien nach dem Neutralitätsgebot zu richten.[34]Für ihn gelten weder weitere noch strengere Maßstäbe als für Bundesminister: ebd. Rn. 88 ff. Die Maßstäbe, die für den Bundespräsidenten entwickelt wurden, sehen wegen der Repräsentations- und Integrationsfunktion des Bundespräsidenten einen weiten, nur auf äußerste Grenzen hin überprüfbaren Gestaltungsspielraum vor.[35]„Spinner“ – BVerfG Urt. v. 10.06.2014 – 2 BvE 4/13 Rn. 37; BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 85 ff. Diese Maßstäbe sind jedoch wegen der Verschiedenartigkeit der Rollen (Bundeskanzler als oberstes Exekutivorgan) nicht übertragbar.[36]ebd. 87.

cc) Äußerung im Rahmen der Wahrnehmung des Amtes?

Entscheidend ist zunächst nach dem Gesagten, ob die Äußerung der BK unter spezifischer Inanspruchnahme der Autorität des Regierungsamtes oder der damit verbundenen Ressourcen erfolgt ist, sie also in Amtsausübung getätigt wurde. Dies ist nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen. Hierfür soll die Perspektive eines mündigen, verständigen Bürgers herangezogen werden.[37]Dies ist eine neu vom BVerfG verwendete Kategorie, deren genaue Konturen noch unklar sind: BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 80.

(1) Bezugnahme auf das Regierungsamt

Eine Bezugnahme auf das Regierungsamt liegt vor, wenn bei der Äußerung ausdrücklich auf das Ministeramt Bezug genommen wird oder die Äußerung ausschließlich Maßnahmen oder Vorhaben des jeweiligen Ressortgebiets zum Gegenstand haben. Außerdem dann, wenn es sich um amtliche Verlautbarungen handelt, wie bei offiziellen Publikationen, Pressemitteilungen oder die Äußerung (zuerst) auf der Internetseite des Ministeriums veröffentlicht wird. Gleiches gilt, wenn offizielle Konten in den sozialen Medien verwendet oder Amtsräume, Hoheitszeichen oder regierungsbezogene Finanzmittel eingesetzt werden. Auch der Auftritt auf einer von der Regierung organisierten Veranstaltung oder der Auftritt als Regierungsmitglied auf einer Veranstaltung fällt hierunter.[38]Ebd. Rn. 81.

(2) Schlichte Beteiligung am politischen Wettbewerb

Eine Beteiligung am politischen Wettbewerb ist demgegenüber anzunehmen, wenn das Regierungsmitglied im parteipolitischen Kontext agiert. Dies betrifft Äußerungen auf Parteitagen oder vergleichbaren Parteiveranstaltungen. Hier werden die Regierungsmitglieder trotz ihrer Funktion vorrangig als Parteipolitiker:innen und nicht als Amtsträger:innen wahrgenommen.[39]Ebd. Rn. 82. Weniger eindeutig ist dies jedoch bei Veranstaltungen wie Talkrunden, Diskussionsforen, Interviews oder bei der Nutzung nicht-regierungsamtlicher Konten in sozialen Medien.[40]Mit Verweis auf: Spitzlei, JuS 2018, 856, 857; Mast, K&R 2016, 542, 543. Hier können Regierungspolitiker:innen sowohl als Politiker:innen als auch als Regierungsmitglieder auftreten. Ein Auftreten unter der Bezeichnung des Amtes ist hier kein Indiz für ein amtliches Tätigwerden, weil staatliche Funktionsträger:innen ihre Amtsbezeichnung auch außerhalb des Dienstes führen dürfen.[41]Zu einem Zeitungsinterview „mit der Bundesministerin“ BVerfG NVwZ 2015, 209, 213 ff. Für eine Einordnung als regierungsamtliche Tätigkeit ist es in einem solchen Fall notwendig, dass die eigenen Aussagen mit der Autorität des Regierungsamtes unterlegt werden. Zur Klarstellung ist es möglich hier darauf hinzuweisen, dass es sich um einen Beitrag außerhalb der regierungsamtlichen Tätigkeit handelt.[42]Mit Verweis auf: BVerfG NJW 2018, 928, 932.

3. Einhaltung der Maßstäbe bei der Äußerung der Bundeskanzlerin

Entsprechend dieser Kategorien ist die Äußerung der Bundeskanzlerin auf dem Staatsbesuch in Südafrika zunächst einzuordnen.  Sodann ist die Eingriffsqualität der Äußerung und eine mögliche Rechtfertigung zu prüfen.

a) Äußerung in Ausübung des Amtes

Zunächst ist fraglich, ob nach den bisher dargelegten Maßstäben die Äußerung der Bundeskanzlerin unter Bezugnahme auf ihr Amt geschah.

aa) Staatsbesuch

Dafür spricht zuvorderst, dass die BK an der Pressekonferenz im Rahmen ihres Staatsbesuchs in Südafrika teilnahm. Der Staatsbesuch war eine dem Amt der Bundeskanzlerin überlassene Tätigkeit, welche von ihr in Ausübung des Amtes wahrgenommen wurde. Thema der Pressekonferenz waren die Gespräche zwischen den beiden Staatschefs über die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Südafrika. Sie wurde als Bundeskanzlerin begrüßt und die Kulisse (vor den Fahnen der Staaten) unterstrich den offiziellen Charakter der Pressekonferenz. Das Umfeld stand der Bundeskanzlerin entsprechend nur zur Verfügung, weil sie in ihrer Funktion als Amtsträgerin diese Reise unternahm. Damit ist zunächst von einer Äußerung in Wahrnehmung des Amtes auszugehen.[43]Hierzu: BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 119 ff.

bb) Deklaration als „Vorbemerkung“ aus „innenpolitischen Gründen“

Fraglich ist, ob die Ankündigung der Bundeskanzlerin, dass es sich bei dem Gesagten um eine „Vorbemerkung“ aus „innenpolitischen Gründen“ handele zu einer anderen Beurteilung führt.

Betrachtet man die Wortbedeutung, ist aus dem Verweis auf die „Vorbemerkung“ keine Abgrenzung der Äußerung von der regierungsamtlichen Funktion erkennbar. Vielmehr deutet dies lediglich darauf hin, dass es sich um eine Bemerkung vor dem eigentlichen Thema der Pressekonferenz handelt. Eine Unterscheidung zwischen den Rollen der Bundeskanzlerin ist hierdurch nicht erfolgt.

Auch bei der Betrachtung der Wortbedeutung des zweiten Teils, also dem Verweis, dass die Vorbemerkung aus „innenpolitischen Gründen“ erfolge, wird keine Abgrenzung der Rolle der Bundeskanzlerin erkennbar. Schließlich äußert sich eine Bundeskanzlerin in amtlicher Funktion sowohl zu innen- als auch außenpolitischen Themen.[44]Siehe hierzu: BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 124 ff.

cc) Inhalt der Äußerung

Entscheidend für eine Einordnung ist mithin der Inhalt der Äußerung. Hierin könnte eine eindeutige Distanzierung der Kanzlerin von ihrem Regierungsamt erkennbar sein. Die Äußerung bezieht sich sowohl darauf, dass keine Mehrheiten mit der AfD organisiert werden sollten, dass die CDU-Abgeordneten in Thüringen ihrer Ansicht nach mit einer „Grundüberzeugung“ gebrochen haben und darauf, dass der Wahlvorgang „unverzeihlich“ gewesen sei, dass dies ein „schlechter Tag für die Demokratie“ gewesen sei. Schließlich sagte sie, dass das Wahlergebnis „rückgängig“ gemacht werden müsse. Darin liegt jedenfalls keine eindeutige Abgrenzung von ihrer Funktion als Bundeskanzlerin. Es ist nicht erkennbar, dass sie diese Äußerung als Parteipolitikerin und nicht als Bundeskanzlerin tätigt.[45]Dazu: BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 127.

Anmerkung: Merke: Vermutung

Das Bundesverfassungsgericht nimmt an dieser Stelle an, dass durch den Auftritt im Rahmen des Staatsbesuchs eine Vermutung zu Gunsten eines Auftritts als Bundeskanzlerin gilt, welcher „widerlegt“ werden müsste.

Etwas anderes könnte sich ergeben, wenn die Bundeskanzlerin in ihrem Amt überhaupt keine Zuständigkeit für eine entsprechende Aussage hätte und sich zu dieser Angelegenheit überhaupt nur als Parteipolitikerin äußern könnte.[46]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 128. Der Bundeskanzlerin steht keine Regelungskompetenz für die Wahl eines Ministerpräsidenten in einem Bundesland zu. Auch die Positionierung der Parteien, Fraktionen und Abgeordneten bei der Wahl und nach der Wahl fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich der Bundeskanzlerin. Ob ein Handeln in den Kompetenzbereich fällt, ist aber nicht entscheidend dafür, ob das Handeln amtlicher Natur war, sondern ob es rechtmäßig war. Eine Äußerung ist auch dann amtlicher Natur, wenn keine Zuständigkeit besteht, aber eine Berufung auf die Autorität des Amtes erfolgt.[47]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 128.

dd) Fehlende Abgrenzung vom Amt

Es wäre möglich gewesen durch einen eindeutigen und unmissverständlichen Hinweis deutlich zu machen, dass es sich bei der Äußerung um eine ausdrücklich nicht-regierungsamtliche Äußerung handelt. Dies ist nicht geschehen.

ee) Exponierte Parteipolitikerin

Zwar ist Angela Merkel auch mehr als 15 Jahre CDU-Parteivorsitzende gewesen und war auch zum Zeitpunkt der Äußerung noch Teil des Parteipräsidiums. Eine Äußerung bezüglich der entstandenen Situation, die sie als „unverzeihlich“ bezeichnete, ist jedoch nicht bereits deshalb als Äußerung außerhalb des Amtes zu verstehen.[48]Dazu: BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 132.

ff) Aufrechterhaltung der Koalition und Außenpolitische Bedeutung

Soweit geltend gemacht wird, es handele sich um eine Aussage, die zur Aufrechterhaltung der Koalition notwendig gewesen wäre, spricht dies auch für eine Aufgabe, die der Bundeskanzlerin kraft ihres Amtes als Regierungschefin obliegt.[49]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 133. Auch die vorgebrachte Notwendigkeit der Äußerung, um außenpolitisch die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik zu wahren, spricht für eine Äußerung im Sinne der Aufgaben, die mit dem Amt verbunden sind.[50]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 134.

gg) Veröffentlichung auf den Seiten der Regierung

Die Veröffentlichung der Äußerung auf den Seiten der Regierung spricht nicht bereits selbst dafür, dass es sich um eine Äußerung in der Funktion des Amtes handelte. Die Veröffentlichung selbst kann amtlichen Charakter haben, für die Bewertung der Äußerung kommt es hierauf aber nicht an.[51]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 135.

hh) Ergebnis

Mithin handelte es sich bei der Äußerung um eine Äußerung in amtlicher Funktion.

b) Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Parteien

Weiterhin müsste die Aussage eine unzulässige Einflussnahme auf den politischen Wettbewerb und damit eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Parteien darstellen. Dafür bedarf es keiner zweckgerichteten Äußerung und hängt nicht von der Intention des Äußernden ab, sondern von der Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont.[52]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 138. Im Einzelfall muss sich die Aussage aus der Sicht eines verständigen Bürgers als offene oder versteckte Werbung für oder gegen einzelne im politischen Wettbewerb stehende Parteien darstellen.[53]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 145; Vgl. BVerfGE 138, 102, 117 ff. Rn. 53 ff.; 148, 11, 34 f. Rn. 66; 154, 320, 340 f. Rn. 58 ff.

aa) negative Äußerung

Die Äußerung beinhaltete zunächst einen Teil, in dem die Bundeskanzlerin sich zur Wahl des Thüringischen Ministerpräsidenten und dem diesbezüglichen Verhalten der Mitglieder der CDU-Fraktion im thüringischen Landtag äußerte. Darin ist keine negative Bewertung oder Einflussnahme auf den politischen Wettbewerb erkennbar.

Weiter qualifizierte die Aussage die Kooperation der CDU mit der AfD als einen Bruch mit der „Grundüberzeugung“, dass „mit der AfD“ keine Mehrheiten gebildet werden sollten. Damit sondert sie die Partei aus dem Spektrum der parlamentarisch-demokratischen Willensbildung aus. Sie verstärkte die Aussagen damit, dass sie die Zusammenarbeit als „unverzeihlich“ bezeichnete und wegen des gesamten Vorgangs von einem „schlechten Tag für die Demokratie“ sprach. Die Aussage beschränkte sich gerade nicht darauf auszudrücken, dass eine Kooperation zwischen der CDU und der AfD nach den entsprechenden Parteitagsbeschlüssen nicht vorgesehen sei.

Dass es sich dabei um politisch-moralische Grundüberzeugungen der Bundeskanzlerin handelt, ändert nicht den abwertenden Gehalt gegenüber der AfD.

bb) Einflussnahme auf den politischen Wettbewerb

Die Äußerungen müssten sich auch als Einflussnahme auf den politischen Wettbewerb darstellen. Die negative Einordnung der AfD und die Aussonderung aus dem Feld der Parteien, mit denen eine Zusammenarbeit möglich wäre, wird von einem objektiven Betrachter als Ausspruch gegen die betroffene Partei wahrgenommen. Implizit legt die Aussage nahe, dass die AfD-Partei nicht gleichwertig zu den anderen Parteien ist und dass eine Stimme für die AfD nicht zum parlamentarisch-politischen Willensbildungsprozess beiträgt. Die Aussage vermittelt dem objektiven Betrachter auch, dass die Äußernde von der Unterstützung der Partei in jeder Form abrät und diese nicht gewählt werden sollte. Die Äußerung entfaltet auch nicht nur in Bezug auf die Situation in Thüringen (bei der die Wahl bereits abgeschlossen war) Wirkung, sondern kann als Einordnung auch bei zukünftigen Wahlen auf Landes- und auf Bundesebene fortwirken. Mithin liegt darin eine Parteinahme gegen die AfD Partei. In der Parteinahme wiederum liegt ein Eingriff in die chancengleiche Teilnahme am politischen Wettbewerb aus Art. 21 GG zu Lasten der AfD.

4. Rechtfertigung des Eingriffs

Der Eingriff in das Recht auf Chancengleichheit könnte gerechtfertigt sein. Dafür müssten zunächst Rechtfertigungsgründe in Betracht kommen, die dem Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 GG die Waage halten könnten.

a) Schutz der Arbeitsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung

In Betracht käme, dass die Bundeskanzlerin, als oberstes Mitglied der Regierung, die Äußerung getätigt hat, um die Arbeitsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung abzusichern. Wegen der großen Bedeutung der Stabilität und Arbeitsfähigkeit der Bundesregierung könnte hierin ein Rechtfertigungsgrund liegen. Der Bundeskanzlerin kommt hier ein weiter Einschätzungsspielraum bezüglich der notwendigen Tätigkeiten zu. Dafür müsste jedoch zunächst eine Situation vorliegen, die ein solches Tätigwerden notwendig macht. Bis zum Zeitpunkt der Äußerung war jedoch lediglich von einem „Dammbruch“ die Rede und es wurde vereinbart, dass der Koalitionsausschuss sich mit der Angelegenheit befassen sollte. Es war noch nicht absehbar, dass eine unmittelbare Bedrohung der Stabilität und Arbeitsfähigkeit der Bundesregierung vorlag. Damit ist die Äußerung in diesem Zeitpunkt nicht mit dieser Begründung zu rechtfertigen.[54]Siehe hierzu: BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 158 ff. – hieran wurde jedoch auch deutliche Kritik laut. Es sei schwierig auf der einen Seite die inhaltliche … Continue reading

b) Wahrung des Ansehens der Bundesrepublik im Ausland

Es ist auch Aufgabe des Bundeskanzlers das Ansehen Deutschlands international und bei den internationalen Partnern zu wahren, Art. 32 I GG. Hierin könnte ein Rechtfertigungsgrund liegen, der sich mit der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten kann. Auch hierfür müsste jedoch zunächst eine Situation vorliegen, die ein Eingreifen der Bundeskanzlerin nötig macht. Internationale Berichterstattung und Nachfragen internationaler Partner sind noch kein ausreichendes Zeichen für einen drohenden Verlust des internationalen Ansehens Deutschlands. Die Situation war auch in Einzelgesprächen erklärbar und aufklärbar. Materiell handelte es sich um eine Situation, in der in einem Bundesland eine bisher nicht dagewesene politische Konstellation zur Mehrheitsbeschaffung genutzt wurde. Dies rechtfertigt jedoch keine Zweifel an der Regierungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschlands. Mithin war auch – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – keine Situation erreicht, die das Tätigwerden der BK rechtfertigen könnte.[55]Siehe zu diesem Absatz: BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 163 ff.

c) Zulässige Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit

Es könnte sich um eine zulässige Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit handeln. Dafür müsste die Bundeskanzlerin zunächst zuständig gewesen sein. Es handelte sich um eine zunächst rein landesinterne Angelegenheit, für die die Bundesregierung bzw. die Bundeskanzlerin keine Regelungszuständigkeit trifft, solange nicht ein Fall von Art. 37 GG vorliegt. Hätte es sich um eine Angelegenheit gehandelt, bei der eine die Öffentlichkeit erheblich berührende Frage überregionale Bedeutung gewinnt[56]Vgl. BVerfGE 20, 56, 100; 138, 102, 114, Rn. 40; 148, 11, 28, Rn. 51; 154, 320, 337, Rn. 49. käme eine Zuständigkeit in Betracht. Diese Frage kann jedoch offenbleiben, wenn die Äußerung auch dann unzulässig gewesen wäre. Dies wäre der Fall, wenn bei der Äußerung das Neutralitätsgebot verletzt worden wäre. Entsprechend dem zuvor gesagten lag in der Äußerung eine Verletzung des Neutralitätsgebots, weshalb eine zulässige Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit zur Rechtfertigung ausscheidet.

d) Ergebnis

Die negative Äußerung und Einflussnahme auf den politischen Wettbewerb zu Lasten der AfD ist damit nicht gerechtfertigt.

5. Ergebnis

In der Äußerung lag eine Verletzung der Rechte der AfD aus Art. 21 GG.

II. Veröffentlichung des Statements auf den Internetseiten der Regierung

Außerdem könnte in der Veröffentlichung des Statements auf den Internetseiten der Regierung eine Rechtsverletzung der AfD liegen. Das Recht der AfD auf chancengleiche Teilnahme am politischen Wettbewerb steht auch hier dem Recht der Bundesregierung bzw. der Bundeskanzlerin gegenüber Ressourcen und die Amtsautorität zur Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben zu nutzen und einzusetzen. Die Äußerungsbefugnis der Bundesregierung findet jedoch dort ihre Grenzen, wo im politischen Meinungskampf auf Ressourcen zurückgegriffen wird, die den politischen Mitbewerber:innen nicht zur Verfügung stehen und diese parteiergreifend eingesetzt werden.

Die Äußerung selbst war (wie beschrieben) parteiergreifend und verletzte die Neutralitätspflichten der Bundeskanzlerin. Bei der (amtlichen) Veröffentlichung der Äußerungen bediente sich die Regierung bzw. die Bundeskanzlerin darüber hinaus Ressourcen, die nur ihr und nicht dem angegriffenen politischen Gegner zur Verfügung stehen. Damit liegt auch in der Veröffentlichung ein eigenständiger Eingriff in die von Art. 21 GG garantierte Chancengleichheit.[57]Bis hierhin: BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 174 ff.

Rechtfertigend könnte hier eine Pflicht zur authentischen Dokumentation der Tätigkeiten der Bundesregierung herangezogen werden. Fraglich ist jedoch, ob Äußerungen, die in amtlicher Funktion fallen und die Rechte der politischen Mitbewerber verletzen, hiervon umfasst sind. Dagegen spricht, dass in einem solchen Fall die Rechtsverletzung unter Rückgriff auf amtliche Mittel verstärkt, wiederholt und perpetuiert werden würde. Um einer Perpetuierung der Rechtsverletzung entgegen zu treten, ist es dementsprechend nicht rechtfertigend, wenn – unter dem Hinweis auf die Chronisten-Funktion – rechtsverletzende Äußerungen der Regierung amtlich veröffentlicht würden.[58]BVerfG Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 Rn. 180 ff. Eine Rechtfertigung scheidet entsprechend aus. In der Veröffentlichung des Statements lag eine eigenständige Rechtsverletzung der AfD in ihren Rechten aus Art. 21 GG.

III. Gesamtergebnis

Die AfD wurde durch die Äußerungen der BK auf der Pressekonferenz auf der Auslandsreise in ihren Rechten auf chancengleiche Teilnahme am politischen Wettbewerb aus Art. 21 i.V.m. Art. 38 I GG verletzt. Außerdem lag in der Veröffentlichung eine eigenständige Verletzung der gleichen Rechte. Mithin ist der Antrag im Organstreitverfahren begründet. Das Vorgehen hat Aussicht auf Erfolg.


Zusatzfragen

Hat der Bundespräsident im Problemkomplex der Äußerungsbefugnis von Amtsträgern eine Sonderstellung?
Die Neutralitätsanforderungen sind nach der Rechtsprechung des BVerfG für den Bundespräsidenten gesondert zu bestimmen. Dieser steht nicht im direkten Wettbewerb mit politischen Parteien und verfügt auch nicht über die Ressourcen, die es ihm ermöglichten entsprechend Bundesminister*innen auf die politische Willensbildung einzuwirken.[59]BVerfG NVwZ 2014, 1156, 1158 – Fall „Spinner“. Seiner Integrationsfunktion kann er nur gerecht werden, wenn es ihm möglich ist, neben Gefahren für das Allgemeinwohl auch die Verursacher zu benennen, selbst wenn Parteien die Verursacher sind. In diesem Rahmen hat er einen weiten Entscheidungsspielraum, wann und wie er sich äußert.[60]BVerfG NVwZ 2014, 1156, 1158 f. Das BVerfG überprüft hierbei nur, ob der Bundespräsident mit der Äußerung „unter evidenter Vernachlässigung seiner Integrationsfunktion und damit willkürlich Partei ergriffen hat“.[61]BVerfG NVwZ 2014, 1156, 1159; vgl. näher hierzu Barczak, NVwZ 2015, 1014, 1019 f.
Wie ist die Äußerungsbefugnis einer Bürgermeisterin zu beurteilen?
Eine Äußerungsbefugnis ist in den Gemeindeordnungen nicht explizit vorgesehen. Art. 28 II 1 GG erlaubt den Gemeinden alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln.[62]Zum schwierigen Problem, ob Aufgabenzuweisungen als Rechtsgrundlage für Eingriffe genügen Stuttmann, NVwZ 2018, 436, 437. Das Amt der gewählten Bürgermeisterin hat eine politische Funktion und daraus folgt, dass sie befugt ist, sich am politischen Diskurs durch Äußerungen zu beteiligen.[63]BVerwG NVwZ 2018, 433, 434.
Die Anknüpfung an Art. 28 II 1 GG führt zu der Begrenzung der Äußerungsbefugnis auf das, was in der örtlichen Gemeinschaft wurzelt oder einen spezifischen Bezug zu ihr hat.[64]Vgl. BVerwG NVwZ 2016, 433, 434.
Wie stark die Bindung von Bürgermeister*innen an das Neutralitätsgebot ist, hängt davon ab, ob ihre Tätigkeit eher mit der eines Bundespräsidenten oder von Minister*innen vergleichbar ist. Insofern werden beide Ansätze vertreten.[65]Vgl. m.w.N. Spitzlei, JuS 2018, 856, 859. Angesichts der Sonderstellung des Bundespräsidenten, der Bedeutung der Chancengleichheit im politischen Willensbildungsprozess und der Aufgabenzuschreibung in den Gemeindeordnungen, die von den Aufgaben des Bundespräsidenten erheblich abweichen, sollte die Äußerungsbefugnis von Bürgermeister*innen strenger entsprechend der Befugnis von Minister*innen beurteilt werden.
Was ist die Besonderheit von Äußerungen gegenüber gesellschaftlichen Gruppierungen, die nicht Parteien sind?
Das Neutralitätsgebot als Grenze der Äußerungsbefugnis folgt – wie im Fall hergeleitet – aus Art. 21 I 1 GG. Art. 21 I 1 GG bezieht sich aber direkt nur auf Parteien. Sonstige Gruppierungen, die nicht regelmäßig an politischen Wahlen teilnehmen,[66]Sonstige Gruppierungen sind bereits deshalb keine Parteien: Parteien müssen eine Vertretung in einem Parlament anstreben; der Parteibegriff des § 2 I PartG kann aufgrund der Normenhierarchie nicht … Continue reading stehen nicht in gleicher Weise im politischen Wettbewerb wie Parteien, sodass keine vergleichbare Gefährdungs- und Interessenlage besteht und auch eine analoge Anwendung von Art. 21 I 1 GG ausscheidet.[67]Vgl. BVerwG NJW 2018, 433, 435 – Fall „Dügida“.
Die Äußerungsbefugnis ist aber durch das Sachlichkeitsgebot begrenzt, das für jedes Staatshandeln gilt.[68]BVerwG NJW 2018, 433, 435. Das folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG), das willkürliches Handeln verbietet, und auch aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 I GG), welches die Willensbildung vom Volk zum Staat und nicht anders herum vorschreibt.[69]BVerwG NVwZ 2018, 433, 435. Diese Wertung wird auch durch Art. 5 I GG gestützt, der Bürger*innen, dem Volk, einen Freiheitsraum garantiert, den der Staat in dieser Form nicht für sich beanspruchen kann.[70]BVerwG NVwZ 2018, 433, 435. Im Ergebnis führt das Sachlichkeitsgebot des Staates bei Äußerungen gegenüber sonstigen Gruppen zu einem vergleichbaren, wenngleich gegenüber politischen Parteien wohl abgeschwächten Schutz dieser Gruppen.[71]Zu der Herleitung einer Neutralitätspflicht des Staates gegenüber sonstigen Gruppen aus Art. 5 I und Art. 8 I GG Wahnschaffe, NVwZ 2016, 1767, 1770 f., der den Schutz der sonstigen Gruppen als … Continue reading

Zusammenfassung:

1. Äußerungen im Rahmen des Amtes als Bundeskanzler:in unterliegen den gleichen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Wahrung der Neutralität gegenüber den politischen Mitbewerbern wie Aussagen anderer Regierungsmitglieder (und unterscheiden sich von denen des Bundespräsidenten).

2. Äußerungen in amtlicher Funktion liegen vor, wenn auf die Autorität des Amtes Bezug genommen wird oder wenn Ressourcen eingesetzt werden, die dem Amt zugeordnet sind. Erfolgt ein Auftritt im Rahmen einer klassischen Amtstätigkeit, gilt die Vermutung, dass die Äußerung in amtlicher Funktion erfolgt. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist eine eindeutige, aus Sicht eines verständigen Betrachters erkennbare Abgrenzung vom Regierungsamt notwendig.

3. Äußerungen, die in die Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 GG eingreifen, können gerechtfertigt sein, wenn dies zum Schutz eines Verfassungsgutes von gleichem Rang notwendig ist. Dafür kommen u.a. der Schutz und die Stabilität der Handlungsfähigkeit der Bundesregierung und das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft in Betracht.


[+]