VGH München, Urteil vom 02.11.2020 – 15 B 19.2210; NVwZ 2021, 1637
Sachverhalt
A ist seit 1988 Eigentümerin eines in Bayern gelegenen Grundstücks im Außenbereich mit einem ehemaligen Wohngebäude, das A zunächst nicht als solches nutzte. Die zuständige Behörde wendet sich an sie und verpflichtet sie, das Gebäude vollständig zu beseitigen. Zur Begründung führt die Behörde an, dass A am Gebäude Um- und Instandsetzungsarbeiten durchgeführt habe, welche einer Wohnnutzungsaufnahme gedient hätten. Das sei genehmigungspflichtig. Das Gebäude, dessen Wohnnutzung seit langem aufgegeben wurde, sollte mit den Baumaßnahmen (Einbau einer Heizungsanlage, Austausch von Türen und Fenster, Erneuerung der Dachhaut, Errichtung eines Kamins) wieder bewohnbar gemacht werden. Diese „Wiederwohnbarmachung“ sei bauplanungsrechtlich nicht genehmigungsfähig. Die Bauruine sei nicht mehr bestandsgestützt gewesen. Die Baugenehmigung aus 1912 sei wirkungslos geworden.
A ist hingegen der Ansicht, die Voraussetzungen zum Erlass einer Beseitigungsverfügung seien nicht gegeben.
Ist eine Klage der A gegen die Beseitigungsverfügung begründet?
Bayerische Bauordnung (BayBauO)
Art. 76 Beseitigung von Anlagen, Nutzungsuntersagung
1Werden Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert, so kann die Bauaufsichtsbehörde die teilweise oder vollständige Beseitigung der Anlagen anordnen, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können. 2Werden Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt, so kann diese Nutzung untersagt werden. 3Die Bauaufsichtsbehörde kann verlangen, dass ein Bauantrag gestellt wird.
Skizze
Gutachten
Die Klage von A ist begründet, wenn der Bescheid rechtswidrig ist und sie in ihren Rechten verletzt, § 113 I 1 VwGO.
Vernetztes Lernen: Welche Klageart wäre statthaft? Hätte eine Klage aufschiebende Wirkung?A. Rechtswidrigkeit der Beseitigungsverfügung
Die Beseitigungsanordnung wäre rechtswidrig, wenn sie nicht auf die Ermächtigungsgrundlage des Art. 76 S. 1 BayBauO gestützt werden kann.
Anmerkung: Regelungen in anderen LändernArt. 76 S. 1 BayBauO fordert einen Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften und meint formelle und materielle Baurechtswidrigkeit (=Illegalität).
I. Formelle Baurechtswidrigkeit
Das Wohngebäude als bauliche Anlage wäre formell illegal, wenn es nicht auf eine Baugenehmigung gestützt werden kann. Im Jahr 1912 wurde für das Wohngebäude eine Baugenehmigung erteilt. Die Baugenehmigung bleibt als Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist, Art. 43 II BayVwVfG (entspricht § 43 II VwVfG).
1. Erledigung infolge Nichtweiterführung einer genehmigten Nutzung
Eine Erledigung auf andere Weise gem. Art. 43 II BayVwVfG kann in einem Verzicht liegen. Mangels eines ausdrücklichen Verzichts kommt nur ein konkludenter Verzicht auf die Baugenehmigung in Betracht.[1]Vgl. Gilcher/Alberts, NVwZ 2021, 1639. Ein konkludenter Verzicht im Sinne einer dauerhaften Nutzungsaufgabe ist dabei abzugrenzen von einer nur vorübergehenden Nutzungsunterbrechung.
a) Orientierung allein am Zeitmodell des BVerwG
In der älteren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts war sich bei der Frage eines konkludenten Verzichts im Rahmen einer Nutzungsunterbrechung an einem Zeitmodell zu orientieren, das das BVerwG im Rahmen von § 35 IV 1 Nr. 3 BauGB entwickelte. Nach diesem Zeitmodell war bei einer Nutzungsaufgabe von einer Dauer von über zwei Jahren regelmäßig nicht mehr mit der Wiederaufnahme der Nutzung zu rechnen, sodass ein Erlöschen der Baugenehmigung anzunehmen sei.[2]BVerwG NVwZ 1996, 379, 379 f.; Vgl. dazu Gilcher/Alberts, NVwZ 2021, 1639, 1640.
Hiernach läge ein konkludenter Verzicht im Sinne einer dauerhaften Nutzungsaufgabe und nicht lediglich eine Nutzungsunterbrechung vor, sodass Erledigung auf andere Weise nach Art. 43 II BayVwVfG eingetreten wäre.
b) Erfordernis eines Umstandsmoments
Gegen eine Orientierung am Zeitmodell des § 35 IV 1 Nr. 3 BauGB spricht, dass für die Annahme eines Verzichtswillens der Zeitraum der Nutzungsunterbrechung nicht allein relevant ist. Erforderlich ist vielmehr das Vorliegen objektiver Umstände, die auf einen dauerhaften Willen zum Verzicht hindeuten.[3]OVG Lüneburg, ZfBR 2021, 662, 663 f.; OVG Bautzen, NVwZ-RR 2020, 469, 471; vgl. Gilcher/Alberts, NVwZ 2021, 1639, 1640. Während in § 35 IV 1 Nr. 3 BauGB, also einer Privilegierung von Bauten, das Zeitmodell im Wortlaut „alsbaldige Neuerrichtung“ einen Niederschlag gefunden hat, fehlt es bei der Frage der Erledigung einer Baugenehmigung an einer derartigen Anknüpfung.[4]Rung, NJW-Spezial 2021, 364.
Eine Obliegenheit zur Weiterführung einer einmal genehmigten Nutzung ist im Bauordnungsrecht nicht vorgesehen. Allein aus einer langjährigen Nichtweiterführung der genehmigten Nutzung kann nicht auf einen dauerhaften Verzichtswillen geschlossen werden, der zu einer Erledigung auf andere Weise i.S.v. Art. 43 II BayVwVfG führte. Der längere Leerstand des Gebäudes ist für die Wirksamkeit der Baugenehmigung daher ohne Bedeutung. Daher bedarf auch die Wiederaufnahme einer genehmigten Nutzung nach einer langen Unterbrechung keiner erneuten Genehmigung. Allein aus der Nichtweiterführung der genehmigten Nutzung folgt demnach keine Erledigung nach Art. 43 II BayVwVfG.[5]Zu diesem Absatz VGH München, NVwZ 2021, 1637, 1638.
2. Erledigung infolge Verfalls der baulichen Anlage
Eine Erledigung auf andere Weise i.S.v. Art. 43 II BayVwVfG kann aber infolge eines Verfalls der baulichen Anlage und damit mit dem Verschwinden des Baugenehmigungsobjekts eingetreten sein. Der Verfall kann einen objektiven Umstand darstellen, der auf einen dauerhaften Verzichtswillen schließen lässt.[6]Gilcher/Alberts, NVwZ 2021, 1639, 1640. Andererseits könnte man in einem Verfall und dem Wegfall des Regelungsobjekts eine vom Verzicht andere Kategorie sehen.[7]Vgl. OVG Lüneburg, ZfBR 2021, 662, 663. Da entweder als konkludenter Verzicht oder als Wegfall des Regelungsobjekts Erledigung in anderer Weise gem. Art. 43 II BayVwVfeG eintritt, ist die genaue Zuordnung zu einer Fallgruppe irrelevant.
Ein solcher Verfall liegt vor, wenn die bauliche Anlage unbenutzbar geworden ist und tatsächlich ein Wiederaufbau notwendig ist. Hierfür kommt es darauf an, ob die Identität der wiederhergestellten mit der ursprünglichen Anlage gegeben ist, was u. a. dann nicht mehr der Fall ist, wenn die Instandsetzungsarbeiten den Aufwand eines Neubaus erreichen oder die Standfestigkeit des Gebäudes berührt wird.[8]BVerwG NVwZ 2002, 92; VGH München, NVwZ 2021, 1637, 1638.
Im vorliegenden Fall bestanden die Maßnahmen zur Wiederherstellung der Wohntauglichkeit in dem Einbau einer Heizungsanlage, dem Austausch von Türen und Fenster, einer Erneuerung der Dachhaut und der Errichtung eines Kamins. Der Aufwand eines Neubaus ist damit nicht erreicht und auch die Standfestigkeit wurde durch den Neubau nicht beeinträchtigt. Das Gebäude befand sich nicht in einem derartigen Zustand, dass die Identität zwischen wiederhergestelltem und ursprünglichem Bauwerk abzulehnen wäre.
Demzufolge ist keine Erledigung auf andere Weise i. S. v. Art. 43 II BayVwVfG infolge des Verfalls der baulichen Anlage eingetreten.
II. Wirkung formeller Legalität
Die Baugenehmigung hat sich demnach nicht nach Art. 43 II BayVwVfG erledigt. Damit fehlt es an der nach Art. 76 S. 1 BayBauO erforderlichen formellen Illegalität. Auf die Frage, ob die Wohnnutzung nach jetziger Rechtslage im Außenbereich zulässig wäre (z.B. nach § 35 IV 1 Nr. 2, Nr. 4 BauGB oder § 35 II BauGB), kommt es nicht mehr an. Auch kann dahinstehen, ob die Entscheidung an Ermessensfehlern (§ 40 BayVwVfG, § 114 VwGO) leidet.
Mit der Wirksamkeit der Baugenehmigung tritt deren Legalisierungswirkung ein. Das Bauvorhaben gilt also als vereinbar mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften.
Vernetztes Lernen: Geht es hier um Bestandsschutz und wie weit reicht der Bestandsschutz im Baurecht?Die Eigentumsgarantie nach Art. 14 I 1 GG gewährt baulichen Anlagen Bestandsschutz, wenn sie einmal dem materiellen Baurecht entsprachen. Es ist zwischen passivem und aktivem Bestandsschutz zu differenzieren.
Nach dem passiven Bestandsschutz ist der Eigentümer berechtigt, das Bauwerk zu erhalten und so wie bisher zu nutzen, auch wenn dies der aktuellen Rechtslage widerspricht. Bestandsschutz ist insofern ein Abwehrrecht gegen Beseitigungsanordnungen und Nutzungsuntersagungen.
Auch die Instandsetzung und Modernisierung des Bauwerks sind zulässig (aktiver Bestandsschutz). Insofern hat man einen Anspruch auf Genehmigung von Folgemaßnahmen, die zu einer funktionsgerechten Nutzung notwendig sind.
Ergänzungen, Erweiterungen oder Nutzungsänderungen sind vom Bestandsschutz grds. nicht umfasst. Diese sind vom aktiven Bestandsschutz abzugrenzen. Ausnahmsweise kann im Sinne eines „überwirkenden“ Bestandsschutzes eine neue bauliche Anlage geschützt sein, wenn der Schutz des vorhandenen Bestandes wegen eines Funktionszusammenhangs mit der Erweiterung ohne diese völlig gegenstandslos würde.[9]Vgl. Stollmann/Beaucamp, Öffentliches Baurecht, 11. Aufl. 2017, § 2 Rn. 5 f.
Achtung: Die Terminologie kann bisweilen abweichen, wenn gesagt wird, aktiver Bestandsschutz werde nicht gewährt. Treffender ist m.E. aber die Differenzierung zwischen aktiv und passiv nach dem Interesse der betroffenen Person: Abwehr ist passiv und Genehmigung ist aktiv. Einige Genehmigungen (d. h. aktiv) können vom Bestandsschutz umfasst sein (s.o.).
B. Rechtsverletzung
Da die belastende Baubeseitigungsanordnung rechtswidrig ist, ist die Adressatin A auch in ihren Rechten verletzt.
C. Ergebnis
Die Baubeseitigungsanordnung ist rechtswidrig und verletzt A in ihren Rechten, sodass die Anfechtungsklage begründet ist.
Zusatzfragen
1. Ist die formelle Illegalität hinreichende Bedingung für den Erlass einer Beseitigungsanordnung?Zusammenfassung:
1. Die Erledigung einer Baugenehmigung in anderer Weise nach § 43 II VwVfG ist nicht allein anhand eines Zeitmoments in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerwG zu § 35 I IV Nr. 3 BauGB „alsbaldige Neuerrichtung“ zu beurteilen.
2. Neben dem Zeitmoment ist insbesondere ein Umstandsmoment erforderlich, aus dem sich der dauerhafte Verzichtswille ergibt.
3. Ein solches Umstandsmoment kann insb. der Verfall der baulichen Anlage sein, d. h. wenn ein Zustand besteht, bei dem die Baumaßnahmen zur Wiedernutzbarmachung die Identität des Bauwerks verändern. Eine Identitätsveränderung liegt vor, wenn Maßnahmen erforderlich sind, die einem Neubau gleichen oder die Standfestigkeit berühren, sodass eine statische Nachberechnung des gesamten Gebäudes erforderlich ist.
4. Für die Erledigung von Baugenehmigungen in anderer Weise nach § 43 II VwVfG ergeben sich folgende Fallgruppen:
1. Die Nutzungsaufgabe geht mit einem Verfall und der Nutzungsuntauglichkeit des Bauwerks einher.
2. Die Anlage wird in identitätsverändernder Weise umgebaut.
3. Die Genehmigte Nutzung wird dauerhaft durch eine andere, die ursprüngliche Genehmigung überschreitende Nutzung ersetzt.[12]Diese Einteilung nimmt vor: Rung, NJW-Spezial 2021, 364, 365.
In jedem Fall ist eine Gesamtabwägung aller Umstände unter Berücksichtigung von Zeitmoment und Umstandsmoment erforderlich, aus denen auf einen dauerhaften Verzichtswillen geschlossen werden kann. Hierbei kann es zu Überschneidungen der Fallgruppen kommen.