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Äußerung eines Bundesministers

BVerfG, Urteil vom 09.06.2020 – 2 BvE 1/19; NJW 2020, 2096

Sachverhalt

Am 14.09.2018 (außerhalb des Wahlkampfes) veröffentlichte das Bundesministerium des Innern auf seiner Internetseite ein Interview des Ministers S mit der Deutschen Presse-Agentur. In dem Interview äußert sich Seehofer (S) (CSU) in Bezug auf die AfD (A) wie folgt:

„Die stellen sich gegen diesen Staat. Da können sie tausend Mal sagen, sie sind Demokraten. Das haben Sie am Dienstag im Bundestag miterleben können mit dem Frontalangriff auf den Bundespräsidenten. Das ist für unseren Staat hochgefährlich. Das muss man scharf verurteilen. Ich kann mich nicht im Bundestag hinstellen und wie auf dem Jahrmarkt den Bundespräsidenten abkanzeln. Das ist staatszersetzend.“

Dieses Verhalten sei, so S, „einfach schäbig“. S bejaht die Frage, ob die AfD radikaler geworden ist und führt weiter aus:

„Die sind auf der Welle, auf der sie schwimmen, einfach übermütig geworden und haben auch dadurch die Maske fallen lassen. So ist es auch leichter möglich, sie zu stellen, als wenn sie den Biedermann spielt.“

Und weiter:

„Mich erschreckt an der AfD dieses kollektive Ausmaß an Emotionalität, diese Wutausbrüche – selbst bei Geschäftsordnungsdebatten. (…) So kann man nicht miteinander umgehen, auch dann nicht, wenn man in der Opposition ist.“

Ab dem 01.10.2018 ist das Interview nicht mehr auf der Homepage des Ministeriums zu sehen.

Die Partei A fühlt sich durch die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite in ihren Rechten verletzt und möchte gegen S vor dem BVerfG vorgehen.

Mit Erfolg?


Skizze


Gutachten

A kann im Wege eines Organstreitverfahrens gem. Art. 93 I Nr. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 5, 23, 63 ff. BVerfGG beim BVerfG beantragen festzustellen, dass sie in ihren Rechten verletzt ist. Ein solcher Antrag hat Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit

Das BVerfG ist für Organstreitverfahren nach Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG zuständig.

II. Parteifähigkeit

A als Antragsstellerin und S als Antragsgegner müssten parteifähig sein, § 63 BVerfGG. Die A-Partei ist weder ein oberstes Bundesorgan noch ein Teil eines solchen, sodass die Parteifähigkeit nicht aus § 63 BVerfGG folgen kann. Nach Art. 93 I Nr. 1 GG sind aber auch andere Beteiligte parteifähig, die u.a. durch das GG mit eigenen Rechten ausgestattet sind. In Art. 21 GG werden Parteien mit eigenen Rechten (u.a. Chancengleichheit) ausgestattet, sodass sie jedenfalls insoweit parteifähig sind, als sie ihre Rechte aus Art. 21 GG geltend machen.[1]St. Rsp. s. nur BVerfG BeckRS 2020, 11570 Rn. 36 m.w.N. A ist demnach parteifähig.

Vernetztes Lernen: Muss bei Parteien je nach geltend gemachtem Recht differenziert werden, wie sie sich an das BVerfG wenden können?
Nach der Rechtsprechung des BVerfG muss differenziert werden. Die Verletzung individueller Rechte, d.h. insb. Grundrechte, die nicht parteispezifisch sind, kann mittels Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Anderenfalls würde die Sonderrolle der Parteien (Art. 21 GG) weiter ausgedehnt als erforderlich. Letztlich sind Parteien der gesellschaftlichen Sphäre zuzuordnen. Dass sie dennoch Parteifähig im Organstreitverfahren sind, soweit sie eine Verletzung von Art. 21 GG rügen, erklärt sich historisch. In der Weimarer Republik fehlte eine Verfassungsbeschwerdemöglichkeit, sodass das Organstreitverfahren erforderlich war, um überhaupt eine Rechtsschutzmöglichkeit für Parteien zu schaffen. Da diese Notwendigkeit mit dem GG weggefallen ist, wird entgegen dem BVerfG bisweilen vertreten, Parteien insgesamt auf die Verfassungsbeschwerde zu verweisen.[2]Vgl. m.w.N. Walter, in: Maunz/Dürig, GG, Werkstand: 91. EL April 2020, Art. 93 Rn. 218.

Bundesminister*innen sind Teile der Bundesregierung und in Art. 65 S. 2 GG und §§ 9 ff., 12, 14 GO BReg mit eigenen Rechten ausgestattet. S ist folglich parteifähig nach § 63 BVerfGG.

III. Streitgegenstand

Ein tauglicher Streitgegenstand ist eine rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung im Rahmen eines verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnisses, § 64 I BVerfGG. Die Veröffentlichung des Interviews auf der Ministeriumshomepage ist grundsätzlich geeignet in die verfassungsrechtlichen Rechte der A einzugreifen. Damit handelt es sich um eine rechtserhebliche Maßnahme in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis.[3]Vgl. zum Erfordernis der Rechtserheblichkeit Walter, in: BeckOK-BVerfGG, 9. Ed. Stand 01.07.2020, § 64 Rn. 25; die Rechtserheblichkeit rückt nah an die Antragsbefugnis heran, … Continue reading

IV. Antragsbefugnis

A müsste möglicherweise in ihren verfassungsrechtlichen Rechten verletzt sein, § 64 I BVerfGG. S hat sich in dem Interview negativ über die A geäußert und das Interview auf der Homepage des Ministeriums veröffentlicht. Die Möglichkeit einer Verletzung besteht auch außerhalb des konkreten Wahlkampfes. Mit der Inanspruchnahme amtlicher Ressourcen für die Veröffentlichung des Interviews könnte S daher die Chancengleichheit der A aus Art. 21 I GG verletzt haben. A ist demnach antragsbefugt.

V. Rechtsschutzbedürfnis

A müsste rechtsschutzbedürftig sein. Dem könnte die Entfernung des Interviews von der Homepage entgegenstehen. Auch der Anlass der Veröffentlichung des Interviews war ein vergangenes Verhalten von A. Gleichwohl beteiligen sich A und S fortdauernd am politischen Diskurs, sodass es zu vergleichbarem Anlass zu einer weiteren Veröffentlichung auf der Homepage kommen könnte. Demnach besteht eine Wiederholungsgefahr und damit auch das Rechtsschutzbedürfnis von A.[4]Vgl. BVerfG NJW 2020, 2096, 2096 f.

VI. Form und Frist

Von der Einhaltung der Anforderungen an Form und Frist aus §§ 23 I 1, 64 II, III BVerfG ist auszugehen.

VII. Zwischenergebnis

Das Organstreitverfahren von A ist zulässig.

B. Begründetheit

Der Antrag ist begründet, wenn S durch die Veröffentlichung des Interviews ein Recht der A aus Art. 21 I GG verletzt.

I. (P) Verfassungsrechtliches Recht von A

A müsste ein verfassungsrechtliches Recht aus Art. 21 I GG zustehen. Nach Art. 21 I 1 GG wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Diese Vermittlungsfunktion zwischen Staat und Gesellschaft braucht es in einer Demokratie, um Wähler*innen zusammenzuschließen und ihnen damit politische Partizipation zu ermöglichen.[5]BVerfG NJW 2018, 928, 929; BVerfG NJW 2020, 2096, 2097. Für eine offene politische Willensbildung ist es erforderlich, dass die Parteien im politischen Wettbewerb gleichberechtigt sind.

Die Chancengleichheit steht in engem Zusammenhang mit der Gleichheit der Wahl gem. Art. 38 I 1 GG, die auch im Vorfeld der Wahl und damit auch in Bezug auf die politische Willensbildung durch Parteien Bedeutung hat.[6]BVerfG NVwZ 2015, 1361, 1362; vgl. auch BVerfG NVwZ 2002, 70. Die Gleichbehandlung bei der Wahl (Art. 38 I 1 GG) ist eine wesentliche Grundlage der demokratischen Ordnung und damit streng formal zu verstehen.[7]St. Rspr. vgl. BVerfG NVwZ 2008, 407, 408. Der Zusammenhang zwischen Art. 38 I 1 GG und der Gleichbehandlung der Parteien bedeutet, dass auch diese Gleichbehandlung formal zu verstehen ist.[8]BVerfG NJW 2018, 928, 929; BVerfG NJW 2020, 2096, 2097. Art. 21 I 1 GG schützt damit die Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung in gleichen Rechten und Chancen. Die Kehrseite der Chancengleichheit ist das staatliche Neutralitätsgebot gegenüber Parteien.[9]Vgl. BVerfG NJW 2020, 2096, 2097 f.

Diese Chancengleichheit bei der Willensbildung könnte auf den Wahlkampf bezogen und beschränkt sein. Damit könnte das Recht der A vor dem Verhalten von S nicht schützen. Die Vermittlerfunktion der Parteien und die Mitwirkung an der politischen Willensbildung sind in Wahlkampfzeiten besonders intensiv.[10]Vgl. BVerfG NVwZ 2015, 209, 210 f.; BVerfG NJW 2018, 928, 929. Der Vorgang politischer Willensbildung ist aber nicht auf den Wahlkampf beschränkt, sondern findet dauernd statt. Auch außerhalb der Wahlkampfzeit wirkt sich das Verhalten der Parteien auf die Wahl aus. Damit beschränkt sich das Recht der Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 I 1 GG nicht auf die Wahlkampfzeit.

Das Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 I 1 GG gilt auch für A, die nicht vom BVerfG nach Art. 21 II GG für verfassungswidrig erklärt wurde.

II. ( P) Begrenzung durch erlaubte Informations- und Öffentlichkeitsarbeit

Die Neutralitätspflicht des Staates ist abzugrenzen von dessen erlaubter Informations- und Öffentlichkeitsarbeit. Ist das Veröffentlichen des Interviews Teil der Informations- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und ist diese erlaubt, läge hierin keine Verletzung der Chancengleichheit aus Art. 21 I GG.

1. Herleitung der Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit

Die Bundesregierung hat die Aufgabe der Staatsleitung (aus Art. 62, Art. 65 GG), was die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit einschließt. Sie dient der Erhaltung eines Grundkonsenses in der Demokratie und bezweckt die Förderung eigenverantwortlichen Mitwirkens der Bürger*innen  an der politischen Willensbildung und die Bewältigung von Problemen.[11]BVerfG NJW 2020, 2096, 2098 m.w.N.; vgl. zur Staatsleitung auch Epping, in: BeckOK-GG, 44. Ed. Stand: 15.08.2020, Art. 65 Rn. 21 ff. Diese Befugnis umfasst insbesondere die Erklärung der Regierungspolitik und die objektive Information über die Bürger*innen unmittelbar betreffende Fragen auch außerhalb exekutiver Politik.[12]BVerfG NJW 2020, 2096, 2098 m.w.N.

2. Begrenzung staatlicher Informations- und Öffentlichkeitsarbeit

Die staatliche Autorität insbesondere der Bundesregierung und die Nutzung staatlicher Ressourcen ermöglichen jedoch einen Einfluss auf den politischen Wettbewerb der Parteien, der den Prozess der Willensbildung in dem Sinne umkehrt, dass er nicht mehr vom Volk zum Staat sondern vom Staat zum Volk verläuft.[13]BVerfG NJW 2018, 928, 930; BVerfG NJW 2020, 2096, 2098.

Vor diesem Hintergrund ist die Grenze von erlaubter Informations- und Öffentlichkeitsarbeit zu einer unzulässigen Beeinträchtigung der Chancenfreiheit politischer Parteien dort zu ziehen, wo die Bundesregierung sich mit einzelnen Parteien identifiziert und die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen hierzu einsetzt. Die gezielte Beeinflussung des politischen Wettbewerbs ist damit unzulässig, es sei denn es handelt sich um die sachliche Auseinandersetzung mit dem Regierungshandeln sowie der Kritik an dieser.[14]Zu diesem Absatz BVerfG NJW 2020, 2096, 2098.

Die Öffentlichkeitsarbeit muss sich ferner im Rahmen der Kompetenzordnung halten.[15]BVerfG NJW 2020, 2096, 2103. Nach Art. 65 S. 2 GG ist jedes Regierungsmitglied zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung des Ressorts befugt.

Vernetztes Lernen: Wie sind die Aufgaben innerhalb der Bundesregierung verteilt?
Kanzlerprinzip/Richtlinienkompetenz (§ 65 S. 1 GG): Der/die Bundeskanzler/in bestimmt die Richtlinien der Politik. Dabei handelt es sich um politische Führungsentscheidungen. Inwiefern auch Einzelentscheidungen von „Richtlinien“ erfasst sind, ist streitig. Einzelfallentscheidungen können dann unter die Richtlinienkompetenz fallen, wenn diese für die Ausrichtung der Politik der Bundesregierung relevant sind. Hierfür spricht der Zweck der Richtlinienkompetenz, dem/der Kanzler/in eine Gesamtverantwortung zuzuschreiben, womit auch ein Beurteilungsspielraum verbunden ist, ob die Thematik hinreichend bedeutsam ist. [16]Vgl. hierzu m.w.N. auch zur Gegenansicht Epping, in: BeckOK-GG, 44. Ed. Stand: 15.08.2020, Art. 65 Rn. 3.

Ressortprinzip/-kompetenz (Art. 65 S. 2 GG): Im Rahmen der Richtlinien leitet jede/jeder Bundesminister/in den Geschäftsbereich in eigener Verantwortung. Das umfasst insb. die politische Entscheidungsgewalt und die Befugnis, über Personal und Organisationsstruktur des Ministeriums zu entscheiden.[17]Vgl. Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 9. Aufl. 2020, § 15 Rn. 22.

Kabinettsprinzip/Kollegialkompetenz (Art. 65 S. 3 GG): Dieses Prinzip meint die Bundesregierung in ihrer Gesamtheit, d. h. als Kollegium. Diese Kompetenz ist teils in anderen Vorschriften des GG vorgesehen, vgl. etwa Art. 80 I 1 Var. 1 GG zu Erlass von Rechtsverordnungen oder Art. 76 GG zu Gesetzesinitiativen. Art. 65 S. 3 GG sieht die Entscheidung des Kabinetts bei Meinungsverschiedenheiten vor. Auch § 15 GO BReg, wonach alle Angelegenheiten von allgemeiner innen- oder außenpolitischer, wirtschaftlicher, sozialer, finanzieller oder kultureller Bedeutung der Bundesregierung zur Beratung und Beschlussfassung vorzulegen sind, ist Ausprägung des Prinzips.

3. Einhaltung der Grenzen durch S

Diese Grenze der Informations- und Öffentlichkeitsarbeit hat aufgrund der Gesetzesbindung der einzelnen Minister*innen, Art. 20 III GG auch S einzuhalten.

Ob S die grundgesetzliche Kompetenzordnung gewahrt hat, wenn er sich nicht nur auf sein Innenressort bezieht, sondern vielmehr einen angemessenen Umgang im politischen Diskurs anmahnt, hängt davon ab, ob das von allen Verfassungsorganen durchgesetzt werden kann. Das kann aber dahingestellt bleiben, wenn S die Grenze der Sachlichkeit nicht einhält.[18]Vgl. BverfG NJW 2020, 2096, 2103.

Die im Sachverhalt beschriebenen Äußerungen stellen eine deutliche Kritik und negative Bewertung von S an der Partei A dar. A stelle sich gegen den Staat und radikalisiere sich. Dabei kritisiert S nicht nur das Verhalten der A-Fraktion im Bundestag gegenüber dem Bundespräsidenten sondern bezieht seine Aussagen auf A als Partei. So ist in „Mich erschreckt an der AfD dieses kollektive Ausmaß an Emotionalität, diese Wutausbrüche …“ eine negative Bewertung enthalten, die über die Kritik an einem konkreten Verhalten hinausgeht. Die Äußerungen von S sind daher nicht allein sachliche Kritik. Sie liegen damit außerhalb des Bereichs erlaubter Informations- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung.[19]Vgl. zu diesem Absatz BVerfG NJW 2020, 2096, 2103.

III. (P) Begrenzung durch parteipolitischen Meinungskampf

Eine unzulässige Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 I 1 GG) muss abgegrenzt werden von der parteipolitischen Tätigkeit von Personen, die auch ein Amt innehaben. Ist ein Verhalten dem parteipolitischen Engagement zuzurechnen, könnte dieses zulässig sein. Regierungsparteien wären schlechter gestellt, wenn Regierungsmitglieder das parteipolitische Engagement aufgeben müssten, sobald sie im Amt sind.[20]BVerfG NJW 2020, 2096, 2099 m.w.N.

1. Erfordernis einer Abgrenzung

Das könnte einerseits zu dem Ergebnis führen, dass Minister*innen auch im Rahmen ihres Regierungsamtes nicht an das Neutralitätsgebot gebunden sind[21]In diese Richtung Tanneberger/Nemeczek, NVwZ 2015, 215, 216, die für eine differenzierte Handhabung sind; vgl. auch Krüper, JZ 2015, 214, 216., womit eine Verletzung der Chancengleichheit der A aus Art. 21 I 1 GG ausgeschlossen wäre. Andererseits könnte es erforderlich sein, die Regierungstätigkeit von der parteipolitischen Tätigkeit abzugrenzen.[22]So das BVerfG NJW 2015, 209, 213; BVerfG NJW 2018, 928, 832; BVerfG NJW 2020, 2096, 2099.

Für eine eingeschränkte Geltung des Neutralitätsgebots bei Minister*innen spricht, dass aus Sicht der Bürger*innen aufgrund der Doppelrolle von Regierungsmitgliedern in Amt und Politik nur geringe Neutralitätserwartungen bestehen.[23]Vgl. nur Krüper, JZ 2015, 214, 216 f.; Tanneberger/Nemeczek, NVwZ 2015, 215, 216. Auch droht anderenfalls eine „Entpolitisierung der Regierung“[24]Tanneberger/Nemeczek, NVwZ 2015, 215, 216.. Aufgrund der Bedeutung der politischen Willensbildung von den Bürgern zum Staat und der damit zusammenhängenden Chancengleichheit der Parteien kann die Schwierigkeit der Trennung beider Positionen aber nicht zur Unanwendbarkeit des Neutralitätsgebots führen.[25]Vgl. BVerfG NJW 2020, 2096, 2099. Der Einwand einer Entpolitisierung greift insofern nicht, als dass eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Regierungshandeln möglich bleibt.[26]Vgl. BverfG NJW 2020, 2096, 2099. Überzeugender ist damit eine kriterienorientierte Abgrenzung zwischen amtlicher und parteipolitischer Sphäre vorzunehmen.

2. Konkrete Grenzziehung

Damit ist eine Grenzziehung erforderlich. Die Grenze zwischen parteipolitischem Engagement und Regierungstätigkeit kann dort gezogen werden, wo Ressourcen eingesetzt werden, über die politische Mitbewerber nicht verfügen und/oder dann, wenn das Regierungsmitglied erkennbar auf sein/ihr Regierungsamt Bezug nimmt und der Äußerung damit das mit dem Amt verbundene Gewicht verleiht; welcher Sphäre das Verhalten konkret zugeordnet wird, ist damit eine Einzelfallfrage.[27]BVerfG NJW 2020, 2096, 2099 f. m.w.N. Hier ist zwischen den Äußerungen im Interview selbst und der Veröffentlichung des Interviews auf der Ministeriumshomepage zu differenzieren.

a) Äußerungen im Interview

Betrachtet man allein die Äußerungen im Interview, greift S nicht auf Ressourcen zurück, die allein ihm als Regierungsmitglied zur Verfügung stehen. Die konkreten Fragen weisen keinen Bezug zum Ressort des S auf. Auch beruft er sich nicht auf seine Autorität als Teil der Regierung indem er etwa Staatssymbole nutzt. Die Äußerungen im Interview sind damit nicht S als Bundesminister sondern als Parteimitglied zuzurechnen, der in dieser Eigenschaft am politischen Meinungskampf teilnimmt.[28]Vgl. zu diesem Absatz BVerfG NJW 2020, 2096, 2102.

b) Veröffentlichung auf Homepage

Mit der Veröffentlichung des Interviews auf der Homepage nutzt S aber Mittel, die nur ihm als Regierungsmitglied zur Verfügung stehen. Dass es sich dabei nicht um eine amtliche Verlautbarung sondern um die Wiedergabe eines Interviews handelt, ändert nichts daran, dass hierfür staatliche Mittel eingesetzt wurden um den politischen Wettbewerb zum Nachteil der A zu beeinflussen. Die Veröffentlichung ist damit der Sphäre der Regierungstätigkeit zuzurechnen und nicht dem parteipolitischen Meinungskampf.[29]Zu diesem Absatz BVerfG NJW 2020, 2096, 2102.

IV. Ergebnis zur Begründetheit

Damit erfolgt die Veröffentlichung des Interviews auf der Ministeriumshomepage weder in der regierungseigenen Informations- und Öffentlichkeitsarbeit noch ist sie dem parteipolitischen Meinungskampf zuzurechnen. S verletzt demnach das Recht der A auf Chancengleichheit aus Art. 21 I 1 GG.

C. Ergebnis

Das Organstreitverfahren von A gegen S ist zulässig und begründet und damit erfolgreich.


Zusatzfragen

Hat der Bundespräsident im Problemkomplex der Äußerungsbefugnis von Amtsträgern eine Sonderstellung?
Die Neutralitätsanforderungen sind nach der Rechtsprechung des BVerfG für den Bundespräsidenten gesondert zu bestimmen. Dieser steht nicht im direkten Wettbewerb mit politischen Parteien und verfügt auch nicht über die Ressourcen, die es ihm ermöglichten entsprechend Bundesminister*innen auf die politische Willensbildung einzuwirken.[30]BVerfG NVwZ 2014, 1156, 1158 – Fall „Spinner“. Seiner Integrationsfunktion kann er nur gerecht werden, wenn es ihm möglich ist, neben Gefahren für das Allgemeinwohl auch die Verursacher zu benennen, selbst wenn Parteien die Verursacher sind. In diesem Rahmen hat er einen weiten Entscheidungsspielraum, wann und wie er sich äußert.[31]BVerfG NVwZ 2014, 1156, 1158 f. Das BVerfG überprüft hierbei nur, ob der Bundespräsident mit der Äußerung „unter evidenter Vernachlässigung seiner Integrationsfunktion und damit willkürlich Partei ergriffen hat“.[32]BVerfG NVwZ 2014, 1156, 1159; vgl. näher hierzu Barczak, NVwZ 2015, 1014, 1019 f.
Wie ist die Äußerungsbefugnis einer Bürgermeisterin zu beurteilen?
Eine Äußerungsbefugnis ist in den Gemeindeordnungen nicht explizit vorgesehen. Art. 28 II 1 GG erlaubt den Gemeinden alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln.[33]Zum schwierigen Problem, ob Aufgabenzuweisungen als Rechtsgrundlage für Eingriffe genügen Stuttmann, NVwZ 2018, 436, 437. Das Amt der gewählten Bürgermeisterin hat eine politische Funktion und daraus folgt, dass sie befugt ist, sich am politischen Diskurs durch Äußerungen zu beteiligen.[34]BVerwG NVwZ 2018, 433, 434.
Die Anknüpfung an Art. 28 II 1 GG führt zu der Begrenzung der Äußerungsbefugnis auf das, was in der örtlichen Gemeinschaft wurzelt oder einen spezifischen Bezug zu ihr hat.[35]Vgl. BVerwG NVwZ 2016, 433, 434.
Wie stark die Bindung von Bürgermeister*innen an das Neutralitätsgebot ist, hängt davon ab, ob ihre Tätigkeit eher mit der eines Bundespräsidenten oder von Minister*innen vergleichbar ist. Insofern werden beide Ansätze vertreten.[36]Vgl. m.w.N. Spitzlei, JuS 2018, 856, 859. Angesichts der Sonderstellung des Bundespräsidenten, der Bedeutung der Chancengleichheit im politischen Willensbildungsprozess und der Aufgabenzuschreibung in den Gemeindeordnungen, die von den Aufgaben des Bundespräsidenten erheblich abweichen, sollte die Äußerungsbefugnis von Bürgermeister*innen strenger entsprechend der Befugnis von Minister*innen beurteilt werden.
Was ist die Besonderheit von Äußerungen gegenüber gesellschaftlichen Gruppierungen, die nicht Parteien sind?
Das Neutralitätsgebot als Grenze der Äußerungsbefugnis folgt – wie im Fall hergeleitet – aus Art. 21 I 1 GG. Art. 21 I 1 GG bezieht sich aber direkt nur auf Parteien. Sonstige Gruppierungen, die nicht regelmäßig an politischen Wahlen teilnehmen,[37]Sonstige Gruppierungen sind bereits deshalb keine Parteien: Parteien müssen eine Vertretung in einem Parlament anstreben; der Parteibegriff des § 2 I PartG kann aufgrund der Normenhierarchie nicht … Continue reading stehen nicht in gleicher Weise im politischen Wettbewerb wie Parteien, sodass keine vergleichbare Gefährdungs- und Interessenlage besteht und auch eine analoge Anwendung von Art. 21 I 1 GG ausscheidet.[38]Vgl. BVerwG NJW 2018, 433, 435 – Fall „Dügida“.
Die Äußerungsbefugnis ist aber durch das Sachlichkeitsgebot begrenzt, das für jedes Staatshandeln gilt.[39]BVerwG NJW 2018, 433, 435. Das folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG), das willkürliches Handeln verbietet, und auch aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 I GG), welches die Willensbildung vom Volk zum Staat und nicht anders herum vorschreibt.[40]BVerwG NVwZ 2018, 433, 435. Diese Wertung wird auch durch Art. 5 I GG gestützt, der Bürger*innen, dem Volk, einen Freiheitsraum garantiert, den der Staat in dieser Form nicht für sich beanspruchen kann.[41]BVerwG NVwZ 2018, 433, 435. Im Ergebnis führt das Sachlichkeitsgebot des Staates bei Äußerungen gegenüber sonstigen Gruppen zu einem vergleichbaren, wenngleich gegenüber politischen Parteien wohl abgeschwächten Schutz dieser Gruppen.[42]Zu der Herleitung einer Neutralitätspflicht des Staates gegenüber sonstigen Gruppen aus Art. 5 I und Art. 8 I GG Wahnschaffe, NVwZ 2016, 1767, 1770 f., der den Schutz der sonstigen Gruppen als … Continue reading

Zusammenfassung:

1. Politische Parteien haben aus Art. 21 I 1 GG ein Recht mit gleichen Chancen an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Damit korrespondierend haben staatliche Amtsträger eine Neutralitätspflicht, die insbesondere die staatliche Äußerungsbefugnis begrenzt.

2. Die Neutralitätspflicht wird begrenzt durch sachliche Informations- und Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen der verfassungsrechtlichen Kompetenzvorschriften und durch den parteipolitischen Meinungskampf, wenn die Äußerung einer Person vielmehr dieser als ihrer Amtsführung zuzurechnen ist.

3. Die Veröffentlichung eines Interviews auf der Ministeriumshomepage mit negativen Aussagen über eine Partei verletzt das Recht der Partei auf Chancengleichheit aus Art. 21 I 1 GG, da staatliche Ressourcen in Anspruch genommen werden.

4. Der Bundespräsident ist auch dem Neutralitätsgebot verpflichtet, hat aber eine Sonderstellung. Bürgermeister*innen sind an das Neutralitätsgebot in ähnlicher Weise wie Minister*innen gebunden. Gegenüber Gruppierungen, die nicht Parteien sind, gilt das Neutralitätsgebot nicht, Amtsträger müssen sich aber an das allgemeine Sachlichkeitsgebot halten.


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