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Achtung! Schüsse

BGH, Beschluss v. 23.04.2024 – 4 StR 87/24NZV 2024, 545

Sachverhalt

H entriss der Ehefrau E des ebenfalls anwesenden G gewaltsam ihren Koffer aus der Hand, in dem sich wertvoller Goldschmuck befand. Ohne zu zögern, floh H zusammen mit mehreren Mittätern in einem bereitstehenden Fluchtfahrzeug. 

G entschied sich kurzerhand die Verfolgung von H aufzunehmen und fuhr in seinem eigenen Pkw den Flüchtenden hinterher. Die Verfolgung führte über eine viel befahrene Autobahn. Um H und seine Komplizen zum Anhalten zu zwingen, versuchte G mehrfach, das Fluchtfahrzeug durch gezielte Auffahrmanöver zu stoppen.

In dieser angespannten Situation zog H, der auf dem hinteren linken Sitzplatz saß, eine Schusswaffe, die er bereits bei der Entwendung des Koffers am Körper getragen hatte. Um G abzuschrecken und die Verfolgung zu beenden, schoss H aus dem Seitenfenster des Fahrzeugs in Richtung des hinterherfahrenden Wagens. Der Schuss traf die Motorhaube auf der Fahrerseite des Pkws von G, prallte von dort ab und hinterließ ebenfalls deutliche Schäden an der Windschutzscheibe (Schaden im Wert von 2.500,00 €). Trotz der bedrohlichen Situation entschloss sich H, keinen weiteren Schuss abzufeuern, obwohl er dazu in der Lage gewesen wäre.

Die Verfolgungsjagd endete schließlich in einem Wendehammer in einem Stadtgebiet. Dort konnte G dem Fahrzeug den Weg abschneiden und es gelang ihm, die gestohlene Beute – den Koffer mit dem Goldschmuck – wieder an sich zu nehmen.

Wie hat sich H strafbar gemacht? 

Bearbeitervermerk: Mögliche Strafbarkeiten nach § 142 und § 241 StGB sind nicht zu prüfen. 


Skizze


Gutachten

Gutachten

A. Strafbarkeit wegen schweren Raubes

H könnte sich wegen schweren Raubes gem. §§ 249 I, 250 I Nr. 1a StGB strafbar gemacht haben, indem er der E den Koffer voller Goldschmuck aus der Hand riss. 

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand

a) mit Gewalt gegen eine Person

H müsste Gewalt gegen eine Person verübt haben. Der Gewaltbegriff umfasst nach der heutigen Rechtsprechung[1]BGH NJW 1995, 2643; NStZ 2020, 219. beim Raub jeden körperlich wirkenden Zwang durch Kraftentfaltung oder jede physische Einwirkung sonstiger Art, die nach Zielrichtung, Intensität und Wirkungsweise dazu bestimmt und geeignet ist, die Freiheit der Willensentschließung oder Willensbetätigung eines anderen aufzuheben oder zu beeinträchtigen.

Vorliegend riss H der E den Koffer aus der Hand. Dabei ließ die E den Koffer los. Die E ließ den Koffer los, sie keine Sie hatte keine Möglichkeit mehr, nach dem Koffer zu greifen, also ihren Willen, den Koffer festzuhalten, durchzusetzen. Das Entreißen stellt einen körperlich wirkenden Zwang dar, der sich auf den Willen der E auswirkte, den Koffer in ihrer Hand halten zu wollen und zu können, da dies durch die Handlung des H nicht mehr möglich war. Somit handelte H mit Gewalt gegen eine Person, nämlich die E. 

b) fremde bewegliche Sache weggenommen 

Der Koffer sowie der Goldschmuck standen zum einen nicht im Alleineigentum des H, sondern viel mehr im Eigentum der E. Zum anderen sind der Koffer und der Goldschmuck körperliche Gegenstände, die tatsächlich fortbewegt werden können. Mithin sind sie fremde bewegliche Sachen.

Weiter müsste der Koffer voller Goldschmuck der E von H weggenommen worden sein. Eine Wegnahme ist der Bruch fremden und die Begründung neuen, nicht notwendigerweise tätereigenem Gewahrsams. Gewahrsam ist dabei die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächlichen Herrschaft einer Person über eine Sache, jeweils bemessen an den Umständen des Einzelfalls, der jeweiligen Verkehrsauffassung und der Anschauung des täglichen Lebens.[2]Rengier Strafrecht BT I/Rengier, 26. Aufl. 2024, § 2 Rn. 27.

H riss der E den Koffer aus der Hand. Damit erlangt er die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene Sachherrschaft sowohl über den Koffer als auch über den sich darin befindenden Goldschmuck. Ursprünglich war E Gewahrsamsinhaberin. Dadurch, dass H der E den Koffer aus der Hand riss, verlor sie die Möglichkeit, die Sachherrschaft über den Koffer und den darin befindlichen Schmuck auszuüben. Gleichsam erlangte der H mit dem Entreißen die tatsächliche Sachherrschaft und begründete damit neuen Gewahrsam an Koffer und Schmuck. 

Vernetztes Lernen: In streitigen Fällen kann die Einordnung als Raub oder räuberische Erpressung schwierig sein. Wie nehmen die Literatur und der BGH die Abgrenzung vor? Wo knüpft der Streit dogmatisch konkret an?

Anknüpfungspunkt dafür ist, inwieweit eine Vermögensverfügung bei §§ 253, 255 StGB im Gleichlauf mit dem Betrugstatbestand gem. § 263 StGB notwendig ist.

Rechtsprechung:
Nach der Rechtsprechung erfordern die Erpressungstatbestände der §§ 253, 255 StGB keine Vermögensverfügung. Dies beruht auf der Ansicht, dass zwischen den Erpressungstatbeständen und dem Raub ein Qualifikationsverhältnis besteht.
Die Rechtsprechung vertritt die Ansicht, dass derjenige, der mit einem Raubmittel einen Diebstahl begeht (§ 249 StGB) gleichsam das Opfer stets zur Duldung der Wegnahme (§ 255 StGB) zwingt. Danach liegt in jedem Raub auch zugleich eine räuberische Erpressung. Die Unterscheidung beider Delikte erfolgt allein aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes.[3]BGH NStZ-RR 2011, 80.

Demnach gilt: Wer nach außen hin erkennbar etwas nimmt, ist Räuber. Wer sich jedoch erkennbar nach außen hin etwas geben lässt, ist räuberischer Erpresser.

Das Hauptargument des BGH lautet, dass der Gesetzeswortlaut eindeutig ist und eben keine selbstschädigende Vermögensverfügung fordert.

Literatur:
Die Literatur hingegen stellt auf die innere Ansicht des Opfers ab. Denn die Literatur ordnet – anders als der BGH – die räuberische Erpressung als Selbstschädigungsdelikt ein und fordert eine Vermögensverfügung durch das Opfer.
Deshalb muss sich das Tun, Dulden oder Unterlassen des Opfers unmittelbar vermögensmindernd auswirken. Raub und räuberische Erpressung stehen folglich in einem Exklusivitätsverhältnis und schließen sich gegenseitig aus.

Für die Abgrenzung ist daher auf die innere Willensentschließung des Opfers abzustellen. Entscheidend für die Annahme des Raubes sei danach, ob das Opfer davon ausgehe, dass der Verlust der Sache auch ohne dessen Mitwirkung erfolge. Hingegen sei räuberische Erpressung gegeben, wenn das Opfer die Schädigung als von seinem eigenen Verhalten abhängig ansehe.[4]Ausführlich dazu Rengier, Strafrecht BT I, 26. Auflage 2024, § 11 Rn. 32 ff.

Die Literatur argumentiert insbesondere damit, dass die Struktur der räuberischen Erpressung der des Betruges gem. § 263 StGB ähnlich sei.

Zur Abgrenzung sieh dir den Fall Schritt für Schritt zum Menschenraub.

c) Qualifikation § 250 I Nr. 1a StGB

H könnte den Qualifikationstatbestand gem. § 250 I Nr. 1a StGB verwirklicht haben, indem er schon bei der Wegnahme eine Schusswaffe bei sich trug. § 250 I Nr. 1a StGB fordert das Beisichführen einer Waffe. Dies ist gegeben, wenn die Waffe i.S.d § 250 I Nr. 1a StGB gehalten oder am Körper getragen wird, das heißt, sich in Griffweite befindet bzw. der Täter sich daran jederzeit ohne nennenswerten Zeitaufwand bedienen könnte.[5]Sander, MüKo-StGB, 4. Aufl. 2021, § 250 Rn. 31.

H hatte bei der Wegnahme eine Schusswaffe bei sich. Dies stellt eine Waffe im Sinne der Norm da. Des Weiteren trug er die Waffe an seinem Körper und somit derart in Griffweite, dass er sich ihrer jederzeit bedienen konnte. Folglich führte H eine Waffe bei sich.  

2. Subjektiver Tatbestand

a) Vorsatz

H müsste vorsätzlich gehandelt haben. Vorsatz ist das Wissen und Wollen der Verwirklichung aller objektiven Tatbestandsmerkmal zur Tatzeit. Als H der E den Koffer mit dem Goldschmuck entriss, wollte er ihr diesen wegnehmen und die Sachherrschaft über den Koffer und die darin befindlichen Gegenstände ausüben. Vorsatz liegt somit vor. Außerdem wusste er auch, dass er die Schusswaffe bei der Wegnahme bei sich hatte, sodass er auch hinsichtlich der Qualifikation mit Vorsatz handelte. 

b) Finalität 

Ferner bedarf es zwischen dem eingesetzten Mittel – hier der Gewalt – und der Wegnahme einer Finalität. Dies bedeutet, dass die Wegnahme kausal auf die Gewaltanwendung zurückzuführen sein müsste.[6]Sander, MüKo-StGB, 4. Aufl. 2021, § 249 Rn. 27.

Erst durch die Gewaltanwendung, dem Entreißen des Koffers aus der Hand der E, war dem H die die Wegnahme möglich. Somit war die Gewalt kausal für die Wegnahme und die geforderte Finalität besteht. 

c) Zueignungsabsicht

Weiter müsste H mit Zueignungsabsicht gehandelt haben. Diese liegt vor, wenn der Täter die Sache selbst oder den in der Sache verkörperte Sachwert dem eigenen Vermögen oder dem eines Drittens wenigstens vorübergehend zur eigenen Verfügung einverleiben und den berechtigten Eigentümer dauerhaft aus seiner Position verdrängen will.[7]Fischer, StGB § 242 Rn. 32 f. 

H nahm der E den Goldschmuck mit dem Ziel weg, mit ihm sein eigenes Vermögen bzw. seines und das seiner Mittäter zu vermehren. Er hatte mithin vor, den Goldschmuck seinem eigenen Vermögen bzw. seinem und dem seiner Mittäter einzuverleiben. Die E – als Eigentümerin – sollte dauerhaft aus ihrer Position verdrängt werden. Daher liegt hinsichtlich des Goldschmucks Zueignungsabsicht vor. 

Hingegen ging es dem H bei dem Koffer nicht darum, ihm seinen Vermögen zuzuführen. Vielmehr sollte der Koffer nur als Mittel zum Zweck mitentwendet werde. Daher ist hinsichtlich des Koffers nicht von einer Zueignungsabsicht auszugehen.[8]Vgl. dazu BGH NStZ 2019, 344. 

II. Rechtswidrigkeit und Schuld

Da keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich sind, handelte H rechtswidrig. Ebenfalls fehlen auch Entschuldigung- und Schuldausschließungsgründe, sodass H auch schuldhaft handelte. 

III. Ergebnis

H hat sich wegen schweren Raubes gem. §§ 249 I, 250 I Nr. 1a StGB im Hinblick auf den Goldschmuck strafbar gemacht. 

Ebenfalls wurde §§ 242, 244 I Nr. 1a StGB sowie § 240 StGB mitverwirklicht.

Anmerkung: Zum vernetzten Lernen und dem Verhältnis von Raub und räuberischer Erpressung

Hier (bei der Frage nach den mitverwirklichten Delikten) würde sich bei der Diskussion um die Qualifizierung des Delikts als Fremdschädigungs- oder Selbstschädigungsdelikts der Unterschied zeigen:

Folgt man der Auffassung der Rechtsprechung, wäre hier noch die räuberische Erpressung gem. §§ 255, 253 StGB anzusprechen, da ein Raub auch immer stets als räuberische Erpressung (Duldung der Wegnahme) einzuordnen ist.

Wird hingegen der Auffassung der Literatur gefolgt, so wäre es grob fehlerhaft, an dieser Stelle noch die räuberische Erpressung anzusprechen, da sich die beiden Delikte gegenseitig ausschließen.

B. Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags gem. §§ 212 I, 22, 23 StGB

H könnte sich wegen versuchten Totschlags gem. §§ 212 I, 22, 23 StGB strafbar gemacht haben, indem er einen Schuss aus dem Auto in Richtung des hinterherfahrenden Wagens des G abfeuerte. 

Der Tod des G ist nicht eingetreten, sodass keine Vollendung vorliegt. Die Versuchsstrafbarkeit ergibt sich aus §§ 23 I, 12 StGB, da der Totschlag ein Verbrechen ist. 

H müsste mit Tatentschluss, also vorsätzlich, gehandelt haben. Dass der H den G töten wollte, ergibt sich weder aus der Handlung des H noch aus den Umständen der Situation. Vielmehr wollte der H den G aufhalten und verhindern, dass ihm die Beute wieder entrissen wird. Dass der H den Tod des G dabei wollte oder nur billigend in Kauf genommen hätte, lässt sich dadurch nicht begründen. Somit scheitert die Strafbarkeit bereits am Tatentschluss. 

H hat sich nicht wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht. 

Anmerkung: Fallabwandlungen

1) Möglicherweise könnte hier das Mordmerkmal der Habgier erfüllt sein, da es dem H darum ging, seine Beute behalten zu können. 

2) Der Sachverhalt könnte leicht so abgewandelt werden, dass ein Tatentschluss anzunehmen wäre. Dann wäre der Schuss auf den G als unmittelbares Ansetzen anzusehen. Weiter zu prüfen wäre dann, ob H möglicherweise gerechtfertigt gehandelt haben könnte, da der G mit seinem eigenen Auto das Fluchtauto rammte und darin ein Angriff i.S.d. § 32 StGB zu sehen sein könnte. Allerdings handelte G in der Situation selbst gerechtfertigt. Zugunsten des G greift die Nothilfe gem. § 32 StGB da der Angriff des H auf den Goldschmuck noch gegenwärtig war. Gegenwärtig ist ein Angriff, wenn dieser kurz bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert. Hier findet der Angriff auf den Koffer – der Raub – noch statt, denn der Raub war noch nicht beendet, da eine Beutesicherung noch nicht endgültig stattgefunden hat. Eine Rechtfertigung scheitert daher an der Rechtswidrigkeit des Angriffs. 

Jedoch wäre der H – soweit keine weitere Sachverhaltsabwandlung stattfindet – auch hier vom unbeendeten Versuch zurückgetreten. Bedenke jedoch, dass bei Vertreten der sog. Einzelakttheorie auch ein anders Ergebnis vertretbar wäre.[9]Zu der Fallabwandlung Jäger, JA 2024, 958, 959. Denn nach der Einzelakttheorie gilt der Versuch als fehlgeschlagen, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat annimmt, dass ein einzelner Handlungsakt, der nach seiner Vorstellung zur Herbeiführung des Taterfolgs geeignet gewesen wäre, nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat. Dabei wird jeder einzelne Ausführungsakt der Tat isoliert betrachtet, und es wird ausschließlich auf den Zeitpunkt des jeweiligen Handlungsakts abgestellt. Nach dem ersten Schuss wäre demnach der Versuch als fehlgeschlagener Versuch zu qualifizieren und somit ein Rücktritt ausgeschlossen.

C. Strafbarkeit wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung und versuchter Nötigung 

In gleicher Weise ist H damit auch vom unbeendeten Versuch der gefährlichen Körperverletzung und der versuchten Nötigung nach §§ 223, 224 I Nr. 2 Alt. 1, Nr. 4 und Nr. 5, 240, 22, 23 StGB zurückgetreten. 

D. Strafbarkeit wegen besonders schweren räuberischen Diebstahls 

H könnte sich wegen schweren räuberischen Diebstahls gem. §§ 252, 242, 250 II Nr. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er während der Autofahrt auf den G schoss, dessen Koffer der H vorab der E entwendet hat. 

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand

a) geeignete Vortat

Als Vortat kommt der noch nicht beendete Raub gem. § 249 I StGB in Betracht, welcher durch die Wegnahme des Koffers voller Goldschmuck verwirklicht wurde. Im Raub ist der Diebstahl als geeignete Vortat des § 252 StGB naturgemäß enthalten. 

b) auf frischer Tat betroffen 

Weiter müsste der H des Diebstahls auf frischer Tat betroffen sein. Auf frischer Tat meint, dass noch ein enger zeitlicher und örtlicher Zusammenhang besteht.[10]Sander, MüKo-StGB, 4. Aufl. 2021, § 252 Rn. 12. Bei einer Verfolgungsjagd, die unverzüglich aufgenommen wurde, ist die Frische der Tat zu bejahen, da hier von keiner zeitlichen Zäsur auszugehen ist.[11]Vgl. Jäger, JA 2024, 958, 959. Betroffen ist der Täter, wenn er am Tatort wahrgenommen wurde. Der H ist auch betroffen, da dieser bei der Wegnahme durch G sowie E bemerkt, also wahrgenommen wurde. Mithin ist H auf frischer Tat betroffen. 

c) Gewalt 

Ferner müsste der H Gewalt gegen G verübt haben. Durch die Abgabe der Schüsse wurde diese geforderte Gewalt auch angewendet, da der Schuss als Kraftentfaltung gegen den G einzuordnen ist.

d) Qualifikation § 250 II Nr. 1 StGB

Da der H seine Schusswaffe bei dem Schuss auf das Fahrzeug des G tatsächlich verwendete, ist auch das qualifizierende Tatbestandsmerkmal des § 250 II Nr. 1 StGB und damit die Qualifikation des § 250 II Nr. 1 StGB erfüllt. 

2. Subjektiver Tatbestand

H handelte auch vorsätzlich, da er zum einen den Koffer mit dem Goldschmuck bewusst und willentlich wegnahm und zum anderen bewusst die Schusswaffe einsetzte, um die Verfolgungsjagd zu verhindern.

Darüber hinaus muss der Täter in der Absicht handeln, eine Beuteentziehung zugunsten des Geschädigten zu verhindern, die tatsächlich oder nach seiner Vorstellung gegenwärtig ist oder unmittelbar bevorsteht (sog. Besitzerhaltungsabsicht).[12]Sander, MüKo-StGB, Aufl. 2021, § 252 Rn. 15. Der H zielte durch seine Handlung darauf ab, die Verfolgungsjagd zu beenden und somit seine Beute zu sichern. Dies diente dem Ziel, dass der G an die gestohlenen Sachen nicht herankommt, sodass die Beuteentziehungsabsicht vorliegt. 

II. Rechtswidrigkeit 

H müsste rechtswidrig gehandelt haben. Als Rechtfertigungsgrund kommt Notwehr gem. § 32 StGB in Betracht. Dafür müsste ein rechtswidriger gegenwärtiger Angriff vorliegen. 

Problematisch erscheint das Merkmal der Rechtswidrigkeit. Denn G handelte selbst aus Notwehr, da er die Verfolgungsjagd nur aufnahm, um den Angriff auf den Koffer mit dem darin enthaltenen Schmuck zu beenden. Diese Handlung war notwendig, geeignet und geboten. Daher greift ein Rechtfertigungsgrund, weshalb das Verhalten des G, welches als Angriff auf H bzw. auf das Auto, in dem er saß, bewertet werden könnte, nicht rechtswidrig war.

Demnach liegt keine Notwehrlage vor, sodass Notwehr als Rechtfertigungsgrund nicht greift.

Aus demselben Grund scheitert auch eine Rechtfertigung gem. § 34 StGB. Daher handelte H rechtswidrig. 

III. Schuld 

Er handelte auch schuldhaft, da keine Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgründe ersichtlich sind.

IV. Ergebnis

H hat sich wegen besonders schweren räuberischen Diebstahls gem. §§ 252, 242, 250 II Nr. 1 StGB strafbar gemacht. Dieser verdrängt den schweren Raub gem. §§ 249, 250 I Nr. 1a StGB, da a es sich dabei nur um einen schweren und nicht einen besonders schweren Raub handelt. Der erste Absatz des § 250 StGB tritt hinter dem zweiten Absatz der Norm zurück.[13]Zu den Konkurrenzen siehe Sander, MüKo-StGB, 4. Aufl. 2021, § 250 Rn. 73. 

Mit erfüllt ist eine Sachbeschädigung gem. § 303 I StGB bezüglich der Schäden am Fahrzeug des G. 

E. Strafbarkeit wegen Gefährdung des Straßenverkehrs

H könnte sich darüber hinaus durch den Schuss auf das Fahrzeug des G während der Fahrt auf der Autobahn wegen Gefährdung des Straßenverkehrs gem. § 315b I StGB strafbar gemacht haben. 

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand

a) § 315b Nr. 1 StGB

Der H könnte gem. § 315b Nr. 1 StGB eine Anlage oder ein Fahrzeug zerstört, beschädigt oder beseitigt haben. Durch die Schüsse auf das Fahrzeug des G wurde das Fahrzeug selbst beschädigt. Daher liegt die Nr. 1 vor. 

Weiter setzt der Tatbestand jedoch voraus, dass durch die Beschädigung eines fremden Fahrzeugs die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigt worden ist. Dies ist der Fall, wenn das Täterverhalten, die generelle Eignung aufweist, das normale Verkehrsrisiko zu steigern.[14]Rengier Strafrecht BT II/Rengier, 25. Aufl. 2024, § 45. Rn. 5.

Für die Verwirklichung bedarf es, dass das eingesetzte Mittel – hier die Beschädigung des Fahrzeuges – das Mittel der Gefährdung darstellt und so gesehen zeitlich vorausgeht. Erschöpft sich das Mittel allein in der Beschädigung des Fahrzeuges, reicht dies zur Verwirklichung des Tatbestandes nicht aus. Denn die Tathandlung – hier die Beschädigung – muss die Ursache der Gefährdung und nicht die Folge der konkreten Gefährdung sein.[15]Vgl. BGH NZV 2024, 545, 546; Jäger, JA 2024, 958, 959.

Demnach stellt die Beschädigung des Fahrzeuges lediglich die Folge der Gefährdung da. Der Schuss, um das Auto zu beschädigend, ist nicht die Ursache für die Gefährdung des Straßenverkehrs, da durch die Beschädigung keine Gefahr für die Sicherheit des Verkehrs entsteht. 

Anmerkung: Begründung des zugrundeliegenden Urteils

Das Landgerichtsurteil hatte die Tathandlungsvariante bejaht. Für die Strafkammer reicht die Beschädigung des Fahrzeuges für Nr. 1 aus. Der BGH hat dies verworfen.

b) § 315b Nr. 3 StGB

Weiter könnte H gem. § 315b Nr. 3 StGB durch die Schüsse einen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff vorgenommen haben. Dafür bedarf es einer ähnlichen und ebenso gefährlichen Handlung wie in den anderen Tatbestandsvarianten.

Für diese Tathandlung würde es ausreichen, wenn durch die Gefährdungshandlung – hier die Schüsse – eine unmittelbare Gefahr für Leib oder Leben oder eine Sachbeschädigung entstanden ist. Jedoch nur, wenn die konkrete Gefahr jedenfalls auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte (Dynamik des Straßenverkehrs) zurückzuführen ist.[16]BGH NZV 2024, 545, 546.

Anmerkung: Einschränkung des Merkmals durch den BGH

Merke: Nicht jede Sachbeschädigung oder Körperverletzung im Straßenverkehr erfüllt den Tatbestand des § 315b StGB. Vielmehr erfordert der Schutzzweck der Norm eine restriktive Auslegung, sodass eine konkrete verkehrsspezifische Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder für eine fremde Sachen von bedeutendem Wert durch die Sachbeschädigung entstanden sein muss.[17]BGH NZV 2024, 545, 546.

In diesem Fall erhöht der Schuss auf das fahrende Fahrzeug des G die Gefahr. Das liegt darin, dass bei einem fahrenden Fahrzeug zusätzlich zur Kraft des Schusses auch die Bewegungsenergie des Fahrzeuges selbst eine Rolle spielt – anders als bei einem stehenden Fahrzeug. 

Durch diesen kombinierten Effekt entsteht eine Verbindung zwischen der Gefahr durch den Schuss und der Bewegung des Fahrzeuges im Straßenverkehr. Das bedeutet konkret, dass durch den Schuss das Risiko gefährlicher Lenkbewegungen, die fast zu einem Unfall hätten führen können, nicht ausgeschlossen werden können.[18]BGH NVZ 2024, 545, 546.

Wichtig ist hierbei die Differenzierung danach, ob der Schuss die Vorderseite des Fahrzeugs getroffen hat oder lediglich die Seite. Hätte der Schuss nur die Seite des Fahrzeuges getroffen, wäre der Schaden durch den Schuss lediglich als Sachbeschädigung einzuordnen. Es würde in diesem Fall gerade an der verkehrsspezifischen Gefahr fehlen, die es für § 315b I Nr. 3 StGB benötigt.

Anmerkung: Vergleichbarkeit zu den Steinwurf-Fällen

Eine ähnliche Unterscheidung nimmt der BGH auch in den Fällen von Steinwürfen von Autobahnbrücken vor.[19]vgl. BGH, Urteil vom 9.12.2021 – 4 StR 167/21, NStZ 2022, 298.
Siehe dazu Die Steinwerferin

Weiter müsste durch die Beschädigung des Fahrzeugs die Gefährdung einer Sache von bedeutendem Wert vorliegen.  Der entstandene Schaden ist als bedeutend anzusehen, da ein Schaden im Wert von 2.500,00 € eingetreten ist. Nach der Rechtsprechung liegt die Wertgrenze für eine Sache von bedeutendem Wert bei 750,00 €.[20]BGH NStZ 2011, 215, 278

Vernetztes Lernen: Stellt die bewusste Zweckentfremdung des Fahrzeuges einen ebenso gefährlichen Eingriff dar?

Damit sind die Fälle gemeint, in denen der Täter das Fahrzeug im Straßenverkehr bewusst als „Waffe“ einsetzt.

Grundsätzlich greift § 315c StGB die Fälle auf, in denen die Gefahr durch eine Gefährdung „im“ Straßenverkehr entsteht; § 315b StGB erfasst in Abgrenzung dazu die Fälle, in denen die Gefährdung von „außen“ kommt. Nun wird in diesen Fällen jedoch beispielsweise das Täterfahrzeug als Rammbock genutzt oder es werden Polizeibeamt:innen durch ein gezieltes Zufahren zum Anhalten gezwungen.

In diesem Fällen kommt es zu der sog. Pervertierung des Fahrzeuges als Waffe. Diese sog. „verkehrsfeindlichen Inneneingriffe“ sind unter drei Aspekten unter den § 315b StGB zu subsumieren:

1. Objektiv: Es muss eine grobe und erhebliche Einwirkung vorliegen.

2. Subjektiv: Der/Die Fahrer:in muss das Fahrzeug bewusst in verkehrsfeindlicher Absicht einsetzen, um den eigentlichen Verkehrsvorgang in einen Eingriff in den Straßenverkehr zu verwandeln.

3. Vorsatz: Der/Die Täter:in muss das Fahrzeug zumindest mit bedingtem Schädigungsvorsatz missbrauchen, etwa als Waffe oder Schadenswerkzeug, um die typische „Pervertierung“ des Verkehrsvorgangs herbeizuführen.

II. Subjektiver Tatbestand

H müsste vorsätzlich gehandelt haben. Vorliegend wollte H durch den Schuss das Fahrzeug des G beschädigen. Er nahm es zumindest billigend in Kauf, dass durch den Schuss der Straßenverkehr gefährdet wird. Aufgrund der dynamischen Eigenart des Schusses musste der H davon ausgehen, dass die Möglichkeit der Gefährdung der Sicherheit des Straßenverkehrs besteht. 

III. Rechtswidrigkeit und Schuld

H handelte rechtswidrig und schuldhaft.

IV. Ergebnis 

H hat sich wegen § 315b I Nr. 3 StGB strafbar gemacht. 

F. Gesamtergebnis und Konkurrenzen 

Insgesamt hat sich H wegen der Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315b I Nr. 3 StGB) sowie eines besonders schweren räuberischen Diebstahls (§§ 252, 242, 250 II Nr. 1 StGB) strafbar gemacht, die in Tateinheit zueinanderstehen.[21]Dazu Fischer, StGB § 315b Rn. 23.


Zusatzfrage

Was muss bei der Berechnung des Promille-Wertes beachtet werden? Welche Unterschiede gibt es im Hinblick auf die Verwirklichung eines Straßenverkehrsdelikts und der Berechnung des Promille-Wertes, um eine Schuldunfähigkeit zu begründen?
Fallbeispiel: Die Tat wurde um 16 Uhr begangen. Der Blutalkoholtest um 19 Uhr wies bei dem Täter einen BAK von 0,9 Promille (Straßenverkehrsdelikt) bzw. von 1,7 Promille (Schuldunfähigkeit) auf.

Die Berechnung des Promille-Wertes wird unterschiedlich vorgenommen:

Straßenverkehrsdelikt
Ist der BAK-Wert für ein Straßenverkehrsdelikt bedeutsam, so ist das Ziel, dass der BAK-Wert möglichst niedrig ist. Dies ergibt sich aus dem in dubio pro reo Grundsatz. Es ist das bestmögliche Ergebnisse für den Täter zu erzielen.

Daher wird nach dem Zeitpunkt der Blutabnahme in den ersten zwei Stunde keine Rückrechnung vorgenommen, sog. Resorptionsphase. Danach wird pro Stunde 0,1 Promille Alkoholabbau zugrunde gelegt.
In unserem Beispiel würde also erst ab 17 Uhr (zwei Stunden vor der Blutabnahme) der Zeitpunkt der Rückrechnung beginnen. Dort würde dann für eine Stunde 0,1 Promille dem Wert von 0,9 Promille hinzugerechnet werden. Dem Täter ist daher zum Zeitpunkt der Tat ein BAK-Wert von 1,0 Promille anzulasten.

Da dies noch nicht den Wert der absoluten Fahruntüchtigkeit (1,1 Promille) erreicht, bedarf es weiterer, alkoholbedingter Fahrfehler, um eine Strafbarkeit nach § 315c bzw. § 316 StGB zu begründen.

Schuldunfähigkeit
Im Hinblick auf die Schuldunfähigkeit wird aufgrund des in dubio pro reo Grundsatzes ein einmaliger Sicherheitszuschlag von 0,2 Promille angenommen. Denn das Ziel ist es, dass der Täter, zu seinen Gunsten den höchstmöglichen Promille-Wert aufweist, um die Schuldunfähigkeit bzw. die verminderte Schuldunfähigkeit zu erreichen.
Hinzukommt, dass bei der Rückrechnung pro Stunde 0,2 Promille ab dem Zeitpunkt der Blutabnahme hinzugerechnet wird.

In unserem Beispiel würde das bedeuten, dass der Täter zum Zeitpunkt der Tat um 15 Uhr einen Promille-Wert von 2,5 Promille (= 1,7 + 0,2 + (3x 0,2) Promille) hatte. Damit fällt er in den Bereich der verminderten Schuldunfähigkeit gem. § 21 StGB (Grenze liegt bei 2,0 Promille, bei Mord und Totschlag bei 2,2 Promille; Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB wird bei 3,0 Promille bzw. 3,3 Promille bei Mord und Totschlag angenommen).

Relevant für die Klausur im zweiten Examen: An welchen Stellen wird Para. 20 StGB bzw. Para. 21 StGB geprüft?

Die Prüfung der Schuldunfähigkeit gem. § 20 StGB wird – wie gewohnt – unter dem Prüfungspunkt der „Schuld“ vorgenommen.

Die verminderte Schuldunfähigkeit gem. § 21 StGB wird im zweiten Examen bei der Staatsanwaltsklausur jedoch nicht im materiell rechtlichen Gutachten (in Niedersachsen sog. „A-Gutachten“) geprüft. Vielmehr wird es im ergänzenden Gutachten (B-Gutachten) im Rahmen der zu erwartenden Strafe als vertypter, fakultativer Strafmilderungsgrund nach § 49 StGB angesprochen. Danach richtet sich unter Umständen, bei welchem Spruchkörper die Anklage zu erheben ist.


Zusammenfassung

1. Eine Straftat nach § 315b I Nr. 1 StGB setzt voraus, dass die Sicherheit des Straßenverkehrs durch die Beschädigung eines fremden Fahrzeugs beeinträchtigt wurde. Dabei muss die Beschädigung als Ursache der Gefahr zeitlich und ursächlich vor der Gefährdung liegen.

2. Wenn die Beeinträchtigung lediglich in der Beschädigung des Fahrzeugs selbst besteht, greift § 315b I Nr. 1 StGB nicht.

3. Der Tatbestand kann auch dann erfüllt sein, wenn die Handlung eine konkrete, verkehrsspezifische Gefahr oder Schädigung herbeiführt. Diese Gefahr muss auf die typischen Kräfte im Straßenverkehr (Fortbewegungskräfte) zurückzuführen sein.

4. Bei Schüssen auf die Front eines verfolgenden Fahrzeugs verstärkt die Dynamik des Straßenverkehrs die Gefahr, da sich zur kinetischen Energie des Projektils die Bewegungsenergie des entgegenkommenden Fahrzeugs addiert. Dieser kombinierte Effekt schafft eine ausreichende Verbindung zwischen der eingetretenen Gefahr und der Dynamik des Straßenverkehrs.

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