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Betreten von Abgeordnetenbüros

BVerfG, Beschluss vom 09.06.2020 – 2 BvE 2/19; NVwZ 2020, 1102

Sachverhalt

A ist Mitglied der Fraktion von DIE LINKE im Deutschen Bundestag. Am 29.09.2018 war der türkische Staatspräsident zu einem Staatsbesuch in Berlin, weshalb im Regierungsviertel Straßensperren vorgenommen wurden. Das Abgeordnetenbüro von A liegt im gesperrten Gebiet. Am Fenster seines Büros hingen in Papierform (DIN A4) Zeichen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG in Syrien. Die Fenster sind zum gesperrten Bereich gerichtet.

Beamte der Polizei beim Deutschen Bundestag wurden bei einem Kontrollgang auf die Plakatierung aufmerksam, als die Straßensperrungen in diesem Bereich bereits wieder aufgehoben waren. A war nicht zugegen. Versuche, ihn zu erreichen, unternahmen die Beamten nicht. Sie betraten die Abgeordnetenbüros von A und nahmen die Plakatierung ab. Passanten haben die Plakatierungen bislang nicht wahrgenommen. Später beriefen sich die Beamten auf eine auf Verbindlichkeit abzielende Dienstanweisung des Bundestagspräsidenten, nach der der Polizei beim Bundestag das Betreten eines Raumes zur Abwehr einer Gefahr gestattet ist.

A begehrt vor dem BVerfG die Feststellung, dass er durch das Betreten der Räume in seinen verfassungsmäßigen Abgeordnetenrechten verletzt worden ist. Es liege auch eine unzulässige Durchsuchung vor.

Hat ein Verfahren des A vor dem BVerfG Erfolg?


Skizze


Gutachten

In Betracht kommt ein Organstreitverfahren gem. Art. 93 I Nr. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 5, 23, 63 ff. BVerfGG. Ein solches Vorgehen von A hat Erfolg, wenn das Verfahren zulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit

Das BVerfG ist gem. Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG für die Entscheidung im Organstreitverfahren zuständig.

II. Beteiligtenfähigkeit

A könnte als Abgeordneter gem. § 63 BVerfGG Teil des Organs Bundestag sein. Abgeordneten sind in Art. 38 I 2, Art. 39 I, Art. 46 ff. GG und §§ 16 ff. GO-BT (u.a.) eigene Rechte zugewiesen. Nähme man an, A wäre nicht Teil des Organs Bundestag, wäre er als Abgeordneter jedenfalls „anderer Beteiligter“ gem. Art. 93 I Nr. 1 GG. Unabhängig vom dogmatischen Anknüpfungspunkt ist A damit aktiv beteiligtenfähig.

Vernetztes Lernen: Wann ist die exakte dogmatische Einordnung relevant?
Problematisch ist, ob einzelne Abgeordnete als Teil des Bundestags dessen Rechte wahrnehmen können. Diese Frage der Prozessstandschaft ist im Rahmen der Antragsbefugnis anzusprechen. Erforderlich dafür ist die Einordnung als Teil des Bundestages gem. § 63 BVerfGG. Das BVerfG verneint in ständiger Rechtsprechung, dass Abgeordnete prozessstandschaftlich Rechte des Bundestages geltend machen können.[1]Vgl. BVerfG NVwZ 2007, 685, 686 m.w.N. Das wird damit begründet, dass Abgeordnete nach der GO-BT keine ständigen selbständigen Gliederungen des Bundestages sind.[2]BVerfGE 90, 286 (343 f.). Ferner ist eine „organisierte parlamentarische Minderheit“ erforderlich; der Schutz des § 64 BVerfGG, der die Antragsbefugnis auf Organteile erweitert, zielt auf die Oppositionsfraktionen.[3]BVerfGE 90, 286 (344); anderer Ansicht mit einem systematischen Gegenargument aus § 22 BVerfGG: Nellesen/Pützer, JuS 2018, 429 ff.

Der Antrag richtet sich gegen den Bundestagspräsidenten, der nach Art. 40 II 1 Alt. 2 GG die Polizeigewalt im Gebäude des Bundestags ausübt. Der Bundestagspräsident ist Teil des Organs Bundestag und in Art. 39 III 2, Art. 40 II GG. §§ 7, 21 ff GO-BT (u.a.) mit eigenen Rechten ausgestattet. Damit ist der Bundestagspräsident nach § 63 BVerfGG beteiligtenfähig.[4]Vgl. m.w.N. Walter, in: BeckOK-BVerfGG, 9. Ed. Stand 01.7.2020, § 63 Rn. 15.

III. (P) Streitgegenstand

Es müsste ein tauglicher Streitgegenstand vorliegen. Nach Art. 93 I Nr. 1 GG, § 64 I BVerfGG ist eine rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis erforderlich, die dem Antragsgegner zuzurechnen ist.

Das Betreten stellt eine Maßnahme dar. Da die Maßnahme möglicherweise die Rechtsstellung des A beeinträchtigt, ist sie auch rechtserheblich.[5]Vgl. zum Erfordernis der Rechtserheblichkeit Walter, in: BeckOK-BVerfGG, 9. Ed. Stand 01.7.2020, § 64 Rn. 25; die Rechtserheblichkeit rückt nah an die Antragsbefugnis heran, vgl. Gersdorf, … Continue reading

Die Polizeigewalt hat der Bundestagspräsident auf die Polizei beim Deutschen Bundestag übertragen (vgl. auch die Dienstanweisung), deren Handeln sich aufgrund der Übertragung der verfassungsrechtlichen Befugnis aus Art. 40 II 1 GG als Handeln des Bundestagspräsidenten darstellt, diesem also zuzurechnen ist.[6]BVerfG NVwZ 2020, 1102 Rn. 30; warnend vor einer Verallgemeinerung der Übertragungsthese Sachs, JuS 2020, 901, 902, der darauf hinweist, dass dies bspw. nicht für die Übertragung von Aufgaben der … Continue reading

Das ferner erforderliche verfassungsrechtliche Rechtsverhältnis (vgl. Art. 93 I Nr. 1 GG: „Auslegung dieses Grundgesetzes“) wurzelt in dem Zweck des Organstreitverfahrens, Kompetenzen der Organ(-teile) voneinander abzugrenzen.[7]BVerfG NVwZ 2020, 1102 Rn. 27. Die Ausübung von Polizeigewalt deutet auf einen verwaltungsrechtlichen Kontext hin. Hier geht es indes um die Reichweite der Kompetenz des Bundestagspräsidenten aus Art. 40 II 1 GG und deren Abgrenzung zu den Abgeordnetenrechten aus Art. 38 I 2 GG. Der verfassungsrechtliche Charakter resultiert dabei aus dem Abgeordnetenstatus. Damit kommt der Polizeigewalt wegen des besonderen Umstands, dass es um die Abgrenzung von Kompetenzen des Bundestagspräsidenten einerseits und den Abgeordnetenrechten andererseits geht, verfassungsrechtliche Bedeutung zu.[8]Vgl. BVerfG NVwZ 2020, 1102 Rn. 28 f.

Anmerkung: Aufbau
Dass ein „verfassungsrechtliches Rechtsverhältnis“ vorliegen muss, erörtert das BVerfG zum Teil und auch im zugrundeliegenden Fall[9]BVerfG NVwZ 2020, 1102 Rn. 27 ff. vorweg zu Beginn der Zulässigkeitsprüfung. Die Problematik lässt sich aber leicht in den bekannten Aufbau integrieren.[10]Vgl. Gersdorf, Verfassungsprozessrecht und Verfassungsmäßigkeitsprüfung, 5. Aufl. 2019, Rn. 93.

Damit handelt es sich um eine rechtserhebliche Maßnahme in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis, mithin um einen tauglichen Streitgegenstand.

IV. Antragsbefugnis

A muss möglicherweise in seinen verfassungsrechtlichen Rechten verletzt sein, vgl. § 64 I BVerfGG.

Anmerkung: Unterschied zur Beteiligtenfähigkeit
Während im Rahmen der Beteiligtenfähigkeit aus den Geschäftsordnungen zugewiesene Rechte genügen, bedarf es in der Antragsbefugnis Rechte bzw. Pflichten des Grundgesetzes. Möglich ist indes auch, dass die Vorschriften der Geschäftsordnungen (auch ungeschriebenes) Verfassungsrecht konkretisieren und somit mittelbar Bedeutung erlangen. Wichtig ist aber die Anknüpfung an Verfassungsrecht. Der insofern gegebene Unterschied zwischen Beteiligtenfähigkeit und Antragsbefugnis wird schon aus dem Wortlaut von § 63 und § 64 BVerfGG deutlich.

1. Verletzung von Art. 40 II 2 GG

A könnte durch eine Durchsuchung in seinem aus Art. 40 II 2 GG vermittelten Recht, dass die Durchsuchung nicht Teil einer ungerechtfertigten Verfolgung ist,[11]Vgl. Brocker, in: BeckOK-GG, 43. Ed. Stand: 15.05.2020, Art. 40 Rn. 56. verletzt sein. Eine Durchsuchung ist das ziel- und zweckgerichtete Suchen nach Personen oder Sachen.[12]BVerfG NVwZ 2020, 1102, 1103 Rn. 33. Hier war den Beamten bekannt, gegen welchen Gegenstand sich die Maßnahme richtet und wo sich dieser Gegenstand befindet. Ein (Durch-)Suchen liegt damit nicht vor. Eine mögliche Verletzung der Rechte von A durch eine Durchsuchung scheidet mithin von vornherein aus.

2. Verletzung von Art. 47 GG

Denkbar ist, dass A durch die Abnahme der Plakatierung in seinem Recht aus Art. 47 GG, dem Schutz vor Beschlagnahme von Schriftstücken soweit sein Zeugnisverweigerungsrecht reicht, verletzt wurde. A wendet sich indes nicht gegen die Maßnahme, die unmittelbar gegen die Plakatierung gerichtet war, sondern ausweislich des Sachverhalts allein gegen das Betreten und die (behauptete) Durchsuchung seiner Abgeordnetenräume. Insofern ist A nicht antragsbefugt.[13]Zur Dispositionsmaxime im Organstreitverfahren Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Werkstand: 59. EL April 2020, § 64 Rn. 11.

3. Verletzung von Art. 38 I 2 GG

Das Betreten der Abgeordnetenräume verletzt jedoch möglicherweise das Recht des Abgeordneten aus Art. 38 I 2 GG, das freie Mandat. Insofern ist A antragsbefugt.

V. Rechtsschutzbedürfnis

Die Abgeordnetenräume könnten erneut betreten werden; entsprechende Eingriffe könnten jederzeit wiederholt werden. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt damit nicht deshalb, weil das Geschehen bereits abgeschlossen ist.

VI. Form und Frist

Von der Einhaltung der Anforderungen an Form und Frist aus §§ 23 I 1, 64 II, III BVerfG ist auszugehen.

VII. Zwischenergebnis

Das Organstreitverfahren von A ist folglich zulässig, soweit er sich gegen das Betreten wendet und eine Verletzung von Art. 38 I 2 GG geltend macht.

B. Begründetheit

Das Organstreitverfahren ist begründet, wenn A durch die Maßnahme tatsächlich in seinen verfassungsmäßigen Rechten verletzt ist.

I. (P) Verfassungsrechtliches Recht von A

Art. 38 I 2 GG gewährleistet als Ausprägung des freien Mandats die effektive Wahrnehmung des Mandats.[14]Hierzu und zum ganzen Absatz BVerfG NVwZ 2020, 1102, 1103 Rn. 37 ff. Hierzu muss den Abgeordneten Infrastruktur zur Verfügung stehen. Diese müssen sie nutzen können, ohne dass ihre Arbeit von Dritten in unberechtigter Weise wahrgenommen wird. Die Meinungsbildung im parlamentarischen Prozess basiert auf dem Umgang mit schriftlichen Unterlagen, aus denen sich eine geistige Haltung erst entwickeln kann. Diese Unterlagen benötigen räumlichen Schutz, damit der politischen Meinungsbildung in dieser Form nicht von vornherein Hemmnisse entgegenstehen. Das freie Mandat erfordert, dass Abgeordnete über die Art und Weise und den Zeitpunkt der Veröffentlichung der Arbeitsinhalte bestimmen. Daher folgt aus dem freien Mandat und der effektiven Wahrnehmung desselben (Art. 38 I 2 GG) das Recht, die Abgeordnetenräumlichkeiten ohne Beeinträchtigung Dritter nutzen zu können.

Vernetztes Lernen: Welche Statusrechte der Abgeordneten werden gewährleistet?
Art. 38 I 2 GG gewährleistet verschiedene Mitgliedschafts- und Statusrechte. Es geht vornehmlich um das Recht auf Mitwirkung im Bundestag.[15]Vertiefend Butzer, in: BeckOK-GG, 43. Ed. Stand: 15.05.2020, Art. 38 Rn. 137 ff.; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 13 Rn. 70 f. Dazu gehören v. a.:
– Anwesenheitsrecht bei Sitzungen des Bundestages
– Rederecht
– Antrags- und Initiativrecht
– Abstimmungsrecht
– Frage- und Informationsrecht ggü. der Bundesregierung
– Das Recht sich in Fraktionen zusammenzuschließen

II. Beeinträchtigung

Das Betreten der Abgeordnetenräume von A durch die Polizei des Bundestags beeinträchtigt dieses aus Art. 38 I 2 GG, dem freien Mandat abgeleitete Recht.

III. Widerstreitende Rechtsgüter

Ein Eingriff in die Rechte aus Art. 38 I 2 GG ist zulässig, soweit andere Rechtsgüter von Verfassungsrang die Beeinträchtigung rechtfertigen. Die Polizeigewalt des Bundestagspräsidenten Art. 40 II 1 GG begrenzt damit nicht von vornherein das Recht aus Art. 38 I 2 GG, es ermöglicht aber, das freie Mandat mit widerstreitenden Verfassungsgütern in Ausgleich zu bringen. Die Repräsentations- und Funktionsfähigkeit des Parlaments sind als solche Gegenrechte anerkannt.[16]Vgl. BVerfG NVwZ 2020, 1102, 1103 Rn. 40.

1. (P) Ermächtigungsgrundlage

Problematisch ist, ob Art. 40 II 1 GG als Ermächtigungsgrundlage für Maßnahmen der Bundestagspolizei ausreicht[17]So Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Werkstand: 90. EL Februar 2020, Art. 40 Rn. 169 ff.; Schliesky, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 7. Aufl. 2018, Art. 40 Rn. 27. oder ob es eines formellen Gesetzes bedarf.[18]So Ramm, NVwZ 2010, 1461, 1465 f.; Friehe, DÖV 2016, 521, 522 ff. Bei der Dienstanweisung handelt es sich nicht um ein formelles Gesetz, sodass sie hier nicht abhelfen kann.

Gerade im Polizeirecht sind erhöhte Anforderungen an die Bestimmtheit von Ermächtigungsnormen zu stellen, was gegen das Ausreichen von Art. 40 II 1 GG als Ermächtigungsgrundlage spricht.[19]Vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Werkstand: 90. EL Februar 2020, Art. 40 Rn. 171, der auf die in den Polizeigesetzen der Länder und über die Bundespolizei enthaltenen Grundsätze des Polizeirechts … Continue reading Andererseits enthalten auch die Polizeigesetze der Länder und das Gesetz über die Bundespolizei Generalklauseln, hinter denen Art. 40 II 1 GG hinsichtlich der Bestimmtheit nicht zu weit zurück bleibt. Angedacht werden könnte insofern eine Differenzierung je nach Intensität des Eingriffs und Gewicht des betroffenen Rechtsguts. Denkbar ist auch, dass es jedenfalls im vorliegenden Fall keiner speziellen Ermächtigungsgrundlage bedarf, da nicht in Grundrechte eingegriffen wird, womit der Wesentlichkeitsgrundsatz aktiviert würde, sondern es vielmehr um die Abgrenzung der Kompetenzen von Beteiligten geht, die sich gerade nicht auf Grundrechte berufen können. Letztlich braucht die Frage nach der Tauglichkeit von Art. 40 II 1 GG als Ermächtigungsgrundlage aber nicht beantwortet werden, sofern die polizeiliche Maßnahme in diesem Fall den Anforderungen des Art. 40 II 1 GG nicht gerecht wird.[20]Offenlassend daher auch BVerfG NVwZ 2020, 1102, 1103 Rn. 42.

2. (P) Bedeutung der Dienstanweisung

Fraglich ist, welche Bedeutung hier der Dienstanweisung und einem etwaigen Verstoß gegen diese zukommt. Da die Dienstanweisung des Bundestagspräsidenten auf Verbindlichkeit abzielt, stellt sie eine ermessenslenkende (genauer: gesetzesvertretende) Verwaltungsvorschrift dar. Abgeordnete können sich hinsichtlich ihrer Abgeordnetenstellung nicht auf Grundrechte berufen,[21]S. nur Butzer, in: BeckOK-GG, 43. Ed. Stand: 15.05.2020, Art. 38 Rn. 117. sodass ein Abweichen von der Dienstanweisung im hiesigen Kontext nicht zu einem Verstoß gegen Art. 3 I GG führen kann. Aus Art. 38 I 2 GG folgt indes die formale Gleichstellung aller Abgeordneten. Stellt der Bundestagspräsident durch die Dienstanweisung generelle Maßstäbe auf, muss er sich gegenüber allen Abgeordneten daran halten. Vergleichbar zum Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung folgt damit auch der grundsätzliche Verfassungsverstoß aus der Nichtbeachtung der selbstgesetzten Grenzen.[22]Vgl. BVerfG NVwZ 2020, 1102, 1103 f. Rn. 44.

3. Tatbestandliche Voraussetzungen der Dienstanweisung

Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Dienstanweisung könnten erfüllt sein. Die Dienstanweisung gestattet das Betreten des Raumes zur Abwehr einer Gefahr. Eine Gefahr ist eine Sachlage, bei der die Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird.[23]BVerfG NVwZ 2020, 1102, 1104 Rn. 46.. Öffentliche Sicherheit umfasst die Unversehrtheit der Rechtsordnung, subjektive Rechtsgüter und die Funktionsfähigkeit des Staates und dessen Einrichtungen.[24]S. nur Kingreen/Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 2018, § 7 Rn. 2. Geschützt ist damit auch die hier einschlägige Unversehrtheit des Parlamentsgebäudes und der Parlamentsmitarbeitenden. Aufgrund des politischen Kontextes und des zeitlichen und örtlichen Zusammenhangs ist das Vorliegen einer Gefahr nicht fernliegend.

Anmerkung: Aufbau
Mit den im Sachverhalt angedeuteten Umständen (Absperrung war schon aufgehoben, niemand hat die Plakatierung wahrgenommen) ließe sich das Vorliegen einer Gefahr wohl auch verneinen. Hier zeigt sich m.E. die Besonderheit des gewählten Rechtsweges. Während ein Verwaltungsgericht sich ggf. näher mit dem Vorliegen der Gefahr auseinandergesetzt hätte, verortet das BVerfG die Umstände in der Verhältnismäßigkeit. Entscheidend ist, mit dem Sachverhalt zu arbeiten. Die Verortung im Aufbau ist sekundär. Wichtig ist, dass auf ferner aufgeworfene Fragen auch dann eingegangen wird, wenn das Vorliegen der Gefahr verneint wird (vgl. die Erforderlichkeit).

Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Dienstanweisung liegen mithin vor.

4. Rechtsfolge

Die Polizei beim Bundestag könnte aber ermessensfehlerhaft gehandelt haben. Das ist u. a. der Fall, wenn sie den aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) resultierenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz missachtet hat. Das Betreten muss einem legitimen Ziel dienen, geeignet, erforderlich und angemessen sein.

a. Legitimes Ziel

Die Unversehrtheit des Parlamentsgebäudes und der Parlamentsmitarbeitenden ist ein legitimes Ziel.

b. Eignung

Unter Berücksichtigung der Prognoseentscheidung der Beamten war das Betreten des Gebäudes auch förderlich, um etwaige Provokationen zu unterbinden. Die Maßnahme war folglich geeignet.

c. Erforderlichkeit

Es darf kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Verfügung stehen. In Betracht kommt als alternative Handlungsmöglichkeit, telefonisch Kontakt zu A oder zum Parlamentarischen Geschäftsführer von DIE LINKE herzustellen, um die Beseitigung der Plakatierung zu erreichen. Ob das ein gleich effektives Mittel darstellt, hängt von dem voraussichtlichen Gefahrenverlauf ab, v. a. davon, ob eine zeitliche Verzögerung zu befürchten wäre und diese zu einer Intensivierung der Gefahr geführt hätte. Die Erforderlichkeit ist damit zweifelhaft, könnte aber mit Verweis auf den Einschätzungsspielraum im Gefahrenabwehrrecht angenommen noch werden.[25]Auf die Einschätzungsprärogative nicht eingehend aber an der Erforderlichkeit zweifelnd BVerfG NVwZ 2020, 1102, 1104 Rn. 50.

b) (P) Verhältnismäßigkeit

Die Beeinträchtigung muss in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht des beeinträchtigten Rechtsguts stehen; vorzunehmen ist eine Gesamtabwägung zwischen Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der mit dem Eingriff verfolgten Ziele.[26]BVerfG NVwZ 2020, 1102, 1104 Rn. 51.

Die Statusrechte des Abgeordneten aus Art. 38 I 2 GG sind hochrangig. Die vom freien Mandat geschützte freie Kommunikation zwischen Mandatsträger*in und den Wähler*innen, die hier durch das Betreten der Abgeordnetenräume gefährdet wird, ist entscheidend für die repräsentative Demokratie. Auch die Funktionsfähigkeit des Bundestages insgesamt ist Schutzziel des freien Mandats. Der Eingriff wiegt folglich schwer.[27]Vgl. BVerfG NVwZ 2020, 1102, 1104 f. Rn. 52.

Die Funktionsfähigkeit des Parlaments vor Gefahren von außen zu sichern, wiegt ebenfalls schwer, indes nicht schwerer als die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments durch das Nichtbetreten der Abgeordnetenräume. Es gab keine Anhaltspunkte, dass Personen das Parlamentsgebäude oder Parlamentsmitarbeitende bereits als Angriffsobjekte wegen der Plakatierung wählten. Vielmehr wurde diese von dritter Seite noch nicht wahrgenommen. Da es sich lediglich um Din A4-Zettel handelte, waren die Plakatierungen ferner nur wenig geeignet, Provokationen hervorzurufen.[28]Zu diesem Absatz BVerfG NVwZ 2020, 1102, 1105 Rn. 54 f.; vertretbar dürfte auch sein, mit diesen Argumenten das Vorliegen einer Gefahr zu verneinen.

Damit war die Maßnahme unangemessen und unverhältnismäßig.

IV. Ergebnis zur Begründetheit

Die Repräsentations- und Funktionsfähigkeit des Parlaments vermag den Eingriff in das freie Mandat der Abgeordneten in der Ausprägung des Rechts, die Räumlichkeiten ohne Beeinträchtigung Dritter nutzen zu können (Art. 38 I 2 GG), nicht zu rechtfertigen. Das Recht von A aus Art. 38 I 2 GG ist verletzt.

C. Ergebnis

Das Organstreitverfahren ist zulässig und begründet und hat damit Erfolg.


Zusatzfragen

Zwischen welchen Verwaltungsvorschriften ist zu differenzieren ?
Es ist wie folgt zu differenzieren:[29]Vgl. hierzu Detterbeck, Allg. Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2020, Rn. 852 ff.

– Organisatorische Verwaltungsvorschriften betreffen die Organisation der Behörden (z.B. Behördengliederung, interne Zuständigkeit)

– Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften bestimmen, wie die gesetzesanwendenden Verwaltungsbediensteten Gesetze auszulegen haben. Die Auslegung ist gerichtlich voll überprüfbar. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften betreffen i.d.R. unbestimmte Rechtsbegriffe ohne Beurteilungsspielraum.

– Gesetzeskonkretisierende Verwaltungsvorschriftenkonkretisieren unbestimmte Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielraum. Sie finden sich v.a. im Umwelt- bzw. Technikrecht (z.B. TA-Lärm, TA-Luft). Bei gesetzeskonkretisierenden Verwaltungsvorschriften ist streitig, ob Gerichte an sie gebunden sind, wenn sie auf ihnen beruhende Verwaltungsentscheidungen überprüfen.

– Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften bestimmen, wie Verwaltungsbedienstete im Regelfall ihr Ermessen ausüben sollen.

– Gesetzesvertretende Verwaltungsvorschriften (wie im Fall) sind Richtlinien, die die gesetzesfreie Verwaltung steuern, wenn sie ohne gesetzliche Grundlage handelt (z.B. Subventionsrichtlinie). Es handelt sich um eine Sonderform der ermessenslenkenden Verwaltungsvorschrift.

Sind Verwaltungsvorschriften gerichtlich überprüfbar?
Als grundsätzlich verwaltungsinterne Regelungen, sind Verwaltungsvorschriften durch Bürger*innen grundsätzlich nicht unmittelbar angreifbar. Die auf ihnen beruhenden Verwaltungsentscheidungen können wie sonst überprüft werden.
Ermessenslenkende und gesetzesvertretende Verwaltungsvorschriften haben über den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung über Art. 3 I GG (oder im hiesigen Fall Art. 38 I 2 GG) mittelbar Außenwirkung; diese Selbstbindung gilt aber nicht bei rechtswidrigen Verwaltungsvorschriften, bei der ersten Anwendung oder bei dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundalge nach der Wesentlichkeitstheorie.
Gesetzeskonkretisierende Verwaltungsvorschriften (TA-Lärm etc.) wurden zunächst als antizipierte Sachverständigengutachten eingeordnet, was zu einer (widerlegbaren) Vermutung zugunsten gesetzeskonformen Handelns führte. Später erkannte das BVerwG unmittelbar bindende Wirkung an.[30]S. nur BVerwG NVwZ 2008, 78. Gesetzeskonkretisierende Verwaltungsvorschriften haben damit auch Außenwirkung ggü. Bürger*innen. Die Außenwirkung entfällt, wenn die Verwaltungsvorschrift gegen höherrangiges Recht verstößt, dem bei Erlass vorhandenen Erkenntnisstand widersprach, sie durch Fortschritte in Wissenschaft und Technik überholt ist oder ein atypischer Sachverhalt vorliegt. Während bei der Anknüpfung an die Selbstbindung der Verwaltung (Art. 3 I GG) die Verwaltungsvorschrift nur mittelbare Wirkung erlangt und primär auf die Verwaltungspraxis abzustellen ist, sind gesetzeskonkretisierende Verwaltungsvorschriften unmittelbar für Gerichte/Bürger*innen verbindlich. Ein Abstellen auf die Praxis und Art. 3 I GG bedarf es dann nicht mehr.

Zusammenfassung:

1. Soweit es bei der Ausübung der Polizeigewalt nach Art. 40 II 1 GG um die Beschränkung von Abgeordnetenrechten geht, handelt es sich um ein organstreitfähiges verfassungsrechtliches Rechtsverhältnis. Richtete sich die Maßnahme gegen Privatpersonen, wäre der Verwaltungsrechtsweg einschlägig.

2. Maßnahmen von Beamten der Polizei beim Deutschen Bundestag sind dem Bundestagspräsidenten zuzurechnen, da er die in Art. 40 II 1 GG verankerte Polizeigewalt auf diese übertragen hat.

3. Den Abgeordneten kommt aus Art. 38 I 2 GG ein Recht zu, die ihnen zugewiesenen Räumlichkeiten ohne Beeinträchtigungen Dritter nutzen zu können. Das ist zur effektiven Wahrnehmung des Mandats im Hinblick auf die Kommunikation zwischen Abgeordneten und Wähler*innen erforderlich.

4. Der Dienstanweisung vom Bundestagspräsidenten an die Polizei beim Deutschen Bundestag kommt mittelbare Außenwirkung im Sinne des Grundsatzes der Selbstbindung der Verwaltung auch gegenüber Abgeordneten zu, die sich in ihrer Funktion zwar nicht auf Art. 3 I GG aber auf Art. 38 I 2 GG und der dort angelegten Gleichbehandlung berufen können.


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